Bei einem Telefonat mit Willy Wijnands, Erfinder von eduScrum, in der vergangenen Woche ist mir klar geworden, dass wir das Pull-Prinzip in eduScrum und anderen agilen Lernformen klarer vermitteln sollten.
An einem Punkt des Gesprächs sagte Willy zu mir: „Meine Schüler bekommen die Informationen, die sie brauchen, genau dann, wenn sie sie benötigen. Sie kommen zu mir und fragen mich danach.“ Und ich dachte mir: das ist ja ein starkes Stück, dass ich das Zauberwerkzeug „Pull“ bisher nur als kleine Stiefcousine behandelt habe – jedenfalls in meinen Artikeln.
Beim Pull-Prinzip wird etwas (Arbeit, Wissen) nicht in ein System hineingedrückt, sondern bereitgestellt, damit es bearbeitet werden kann, sobald Kapazitäten dafür frei sind.
Ob eduScrummer oder nicht: wir brauchen mehr Lern-Pull, also dass sich Lernende die Informationen zu der Zeit ziehen, zu der sie sie am besten verwerten können!
Bei Unterrichtsformen, in denen ein Lehrender Unterrichtsstoff oder Seminarstoff an eine größere Gruppe von Lernenden zu einer Zeit gleich vermittelt, also die Informationen in das System der SchülerInnen hinein-„pusht“, egal wo diese sich lerntechnisch gerade befinden, fällt unweigerlich Verschwendung – Waste – an.
Die Idee von Verschwendung wird hier für mich noch einfacher sichtbar, als in manchem Projekt in der Wirtschaft.
Welche Arten von Verschwendung könnten das sein und wie hilft Pull dabei?
Begleiten wir gedanklich eine junge Lernende: Laura, 14 Jahre alt.
Verschwendung durch verschiedene Lerntypen.
Zum Beispiel merkt sich Laura die Dinge am besten durch Bilder und Visualisierungen. Im Moment hört sie zu. Eben schien ihr alles noch ganz klar, aber inzwischen hat sie den Anfang der Erklärung über den vielen Input schon wieder vergessen und fühlt sich verwirrt.
Pull hilft!
Laura könnte sich in ihrem Lernteam die Stoffbrocken selbst ziehen und sogar über die Darreichungsform entscheiden. Sie entscheidet, auf welche Art und Weise sie lernen möchte. Sie kann selbst nach Informationen suchen, vorgeschlagene Quellen sichten oder ihr Team und ihren Lehrer fragen, wenn ihr etwas fehlt.
Das hilft auch gegen eine weitere Form der Lern-Verschwendung, nämlich:
Verschwendung durch zu viel passives Lernen (der Klassiker, gern auch bekämpft in meinen Trainings).
Laut Lernpyramide bleibt beim Hören von Information 5% des Stoffes hängen. Beim selber Lesen, ok, 10%. Beim Sehen und Hören gut 20%. Bei Demonstrationen, die Benni, Lauras Schwarm, so mag, 30%. Alles nicht so befriedigend. Der Atem des Lehrenden: dahin.
Pull hilft!
Sollten Laura und Benni in einem selbstorganisierten, eigenverantwortlichen Lernteam zusammenarbeiten, dann kämen sie beim selber Recherchieren und gemeinsamen Erarbeiten des Wissens immerhin auf 75%, beim Erklären und selbst anderen Beibringen auf ca. 90%.

Verschwendung dadurch, dass einige Schüler die Informationen ggf. nicht aufnehmen können, weil ihnen vorhergehende Informationen fehlen.
Laura musste eine wichtige Whats App verfassen. Ihre beste Freundin Bianca hat einige Tipps zum Thema Benni rüberwachsen lassen und ihr ist nicht alles ganz klar geworden, was Bianca da geschrieben hat. Jetzt hat sie den Anschluss verpasst, möchte aber auch nicht blöd vor der ganzen Klasse dastehen. In einem Setting, in dem der Stoff schlüssig und linear aufgearbeitet ist und den Schülern präsentiert wird, ist Laura jetzt erst mal raus.
Pull hilft!
Manchmal ist etwas anderes einfach kurz wichtiger, als einer Lehrperson zuzuhören.
Im eduScrum Team kann Laura sich kurz sammeln und dann weiterlernen. Vielleicht sogar mit Benni zusammen. Oder sie hat Gelegenheit, ihn zu fragen. Wenn es ganz ungünstig läuft, dann plant sich Laura ein wenig Selbststudium am Nachmittag ein, damit sie mit ihrem Team gleichauf ist.
Verschwendung dadurch, dass der Lehrende etwas ausführlicher erklärt, als es ein Schüler bräuchte, oder etwas erklärt, was ein Schüler schon weiß.
Laura hat es jetzt echt verstanden. Sie kann aber nicht weiterlernen, weil sie auf ihre komplette Klasse warten muss. Benni zu Beispiel hat es noch nicht verstanden. Und Matze fragt auch noch mal nach. Eigentlich sind die alle ein bisschen langsam. Mal Bianca schreiben…
Pull hilft!
Säße Laura in einem Team mit eduScrum Board und einer kompletten Projekt-Aufgabenstellung, dann könnte sie für sich schon weitermachen und weitere Aufgaben ziehen. Oder es höchstens vier Personen im eigenen Team erklären, einen guten Eindruck dabei hinterlassen und für sich selbst etwas dabei herausholen (die 90% oder ein Gespräch mit Benni).
Verschwendung dadurch, dass die Aufmerksamkeitsspanne eines Schülers aufgebraucht ist.
Warum ist am Ende der Energie nur noch sooo viel Unterricht übrig? Wie schaffe ich es, in der Mathe-Doppelstunde nicht einzuschlafen? Wann kriegen wir wieder frische Luft? Warum darf ich meine Kekse nicht rausholen, ich bin unterzuckert!
Pull hilft!
Wenn Laura ihren Rhythmus selbst bestimmt und selbst aktiv lernt, dann geht die Stunde viel schneller vorbei, als gedacht. Das kann positiv sein, oder mit Blick auf die selbst überwachten Fortschritte auch mal ernüchternd. Wenn Laura sich gar nicht mehr sammeln kann, dann macht sie mehr Hausaufgaben. Wahrscheinlich kann Laura sich dann doch noch mal sammeln.

Dies sind die Arten von Lern-Verschwendung, denen wir meiner derzeitigen Meinung nach mit Pull zu Leibe rücken könnten…
Natürlich bedarf es zur Umsetzung dieses Wundermittels „Pull“ zuallererst einer Veränderung unseres Mindsets: nämlich des Mindsets von uns Lehrenden, sonst hat Lern-Pull keine Chance.
Was kann ich mir erlauben meinen SchülerInnen oder TeilnehmerInnen zuzutrauen? Als wie eigenständig kann ich sie betrachten? Und kann ich das Vertrauen vorschießen, dass sie sich den Stoff ziehen werden, dass sie Eigenverantwortung übernehmen wollen, oder bewege ich mich da auf unsicherem Terrain? Denn: wenn ich als Lehrende etwas im Seminar oder Unterricht gesagt habe, dann ist es doch immerhin unterrichtet. Oder?!
Frederic Jordan kommentierte auf Facebook zum Artikel wie folgt:
Die Erläuterung: „Beim Pull-Prinzip wird etwas (Arbeit, Wissen) nicht in ein System hineingedrückt, sondern bereitgestellt, damit es bearbeitet werden kann, sobald Kapazitäten dafür frei sind.“ ist aus Sicht der gängigen Definition des erwähnten Prinzip kreuzfalsch.
Pull bedeutet ziehen. Etwas bereitstellen oder auf einen leeren Platz drücken hat damit nichts zu tun. Auch nicht, wenn der Leistungserbringer danach fragen muss.
Lernprozesse lassen sich ganz schlecht mit Industriemethoden vereinfacher. Ausser, wenn das Gegenüber dies kann. Somit weit unter 5%.
Ebenso ist der Versuch auch hier nach Verwendung zu suchen, ein klarer Hinweis, dass nicht verstanden wird, was beim Lernen falsch läuft. Vermittlung von Wissen besitzt keine Verschwendung. Dies kann aber bei der Methode der Vermittlung, des verwendeten Material oder der Arbeitsweise sein. Andere Baustelle.
Bin ein klarer Verfechter davon, dass junge Menschen unter besseren Voraussetzungen lernen sollten. Das liegt in erster Linie an den Dozenten, nicht am Schüler. Bin selbst Dozent, weiss somit wovon ich spreche.
Der Versuch jede Methode aus der Wirtschaft oder noch schlimmer aus der Softwareentwicklung in andere Bereiche zu übertragen, schlägt mehrheitlich fehl. Ausser.. man versteht, was hinter dem Ganzen ohne Methode steht und wie damit agiert werden muss. Somit kommen meist nur Spezialisten in Frage.
Die Aussage zu Beginn des Textes: „Meine Schüler bekommen die Informationen, die sie brauchen, genau dann, wenn sie sie benötigen. Sie kommen zu mir und fragen mich danach.“
… klingt super, aber ist (leider) nicht auf die ganze Breite der Schüler zutreffend. Wer gerne lernt und sich selbst seine Informationen beschafft, der ist happy damit. Der Rest kippt weg und verliert.
Nochmals, der Dozent ist für die passende Vermittlung verantwortlich. Aus meiner Sicht ist es zumindest gegenüber Kindern unfair ein System oder eine Methode zu nutzen, damit man selbst weniger tun muss. Und das ist es im Endeffekt. Was im Business gut ist, ist hier falsch am Platz.
Dies ein paar Gedanken dazu.
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