Jeder will agil werden! Logisch, muss ja, wegen der Digitalisierung und so. Diese Sichtweise kommt zunehmend in den Chefetagen an. Agiles Management, Innovationsfähigkeit, Dynamik sind nicht nur en vogue, sondern in Zeiten des gesellschaftlichen Wandels notwendige Bedingungen für das Überleben von Organisationen. Gerade jedoch, wenn wir uns in eher traditionellen Branchen wie der Verwaltung oder der Sozialwirtschaft bewegen, stellt sich die Frage, wie die Mitarbeitenden „an der Basis“ mehr Selbstorganisation und Eigenverantwortung in ihrem Arbeitsbereich leben können. Hier ist die Herangehensweise, agiles Management, Führung und systemische Fragen zu verbinden, zielführend.
Wie das gelingen kann, will ich im folgenden Beitrag skizzieren. Dazu werde ich zunächst einen kleinen Einblick in die systemische Denkweise liefern. Daran anschließend werde ich einige grundlegende systemische Fragekomplexe erläutern, um dann die Verbindung zwischen systemischen Fragen, agilem Management und Führung als einen Ansatz erläutern, der es einfach ermöglicht, die Mitarbeitenden in die Selbstorganisation und Eigenverantwortung zu führen.
Damit soll verdeutlicht werden, wie systemische Fragen ausgestaltet sind und welchem Zweck sie eigentlich dienen: Neue Denkweisen, neue Herangehensweisen, neue Lösungen für Probleme und Herausforderungen zu liefern und zwar für Teams ebenso wie in der Beratung von Familien oder Einzelpersonen.
Offen ist jedoch, welche Bedeutung systemischer Fragen im Kontext von Führung und agilem Management, gerade in den wie oben schon beschriebenen eher traditionellen Branchen, haben können.
Was ist ein soziales System?
Zum Verständnis systemischer Fragen ist es vorab notwendig, einen kleinen (hier wirklich nur angerissenen) Blick auf die Frage zu werfen, was eigentlich unter einem System (im hier verwendeten Sinn) zu verstehen ist. Auch wenn es schwierig ist, eine kurze Definition zu finden, will ich es versuchen. So lässt sich ein System als ganzheitlicher Zusammenhang von in Beziehung stehenden Elementen verstehen. Diese Beziehungen untereinander sind intensiver als die Beziehungen der Elemente zu anderen Elementen. Diese Unterschiedlichkeit der Beziehungen konstituiert die Grenze zwischen System und Umwelt des Systems.
Beginnend bei der Familie über Teams bis hin zu Abteilungen, Organisationen und Funktionssystemen (verschiedene Organisationen aus bestimmten Bereichen, bspw. Rechtssystem, Gesundheitssystem) lässt sich nachvollziehen, was unter einem – hier sozialen – System verstanden werden kann.
Soziale Systeme wiederum haben bestimmte Verhaltensweisen, die Sie schnell nachvollziehen können: Beispielsweise versuchen soziale Systeme permanent, sich auf eine zumindest temporäre Stabilität einzupendeln. Veränderungen von Systemelementen haben immer Auswirkungen auf das Gesamtsystem (bspw. neuer Mitarbeiter im Team). Die Ergebnisse von Interventionen in komplexe Systeme lassen sich nicht planen und vorhersagen. Konkret für Organisationen bedeutet dies: Organisationen sind grundsätzlich nicht steuerbar. Veränderungen, etwa der Organisationskultur, sind nur durch die Veränderung der Strukturen, Regeln und Prozesse möglich.
Was ist „systemisches Fragen“?
Auch eine einheitliche Definition von dem, was unter systemischem Fragen zu verstehen ist, existiert noch nicht. Ein recht eingängliche Denkweise habe ich im kleinen Buch „Systemisches Fragen, essentials“ (Patrzek, 2015) gefunden.
Demnach bezeichnen systemische Fragen eine spezielle Fragetechnik, die dazu dient,
- vor dem Hintergrund eines systemischen Verständnisses von zwischenmenschlichem Miteinander
- die Reflexion und das Verständnis von Einzelpersonen und/oder Teams
- bezüglich ihres eigenen und fremden Denkens, Wollens und Fühlens anzuregen,
- damit sich ihnen neue Perspektiven eröffnen
- und sich letztendlich ihr Handlungs- und Entscheidungsspielraum vergrößert.
Systemische Fragen lassen sich in unterschiedliche Fragearten untergliedern. Dabei ist zunächst zwischen offenen und geschlossenen Fragen zu unterscheiden. Geschlossene Fragen lassen sich mit „Ja/Nein“ beantworten. Offene Fragen hingegen sind der einzige Weg, wirklich neue Information erhalten zu können. Offene Fragen veranlassen den Befragten dazu, von sich aus ausführlich zu berichten. Sie beginnen – das ist nichts Neues – mit den bekannten „W-Fragewörtern“, also mit „was“, „wie“, „wer“ usw.
Fragekomplexe systemischer Fragen
Systemische Fragen lassen sich weitergehend differenzieren in die drei folgenden Fragekomplexe:
Zirkuläre Fragen
Dabei wird nach den vermuteten Einstellungen und Relationen anderer gefragt. Das mutet zunächst etwas paradox an. Dahinter steht jedoch, dass Vermutungen über Meinungen und Relationen anderer relevanter Personen und Gruppen – unabhängig davon,ob sie mit den tatsächlichen Einstellungen und Beziehungen übereinstimmen – die Realität und das Verhalten aller Beteiligten stark beeinflussen (vgl. ISO, S. 2). Exemplarische Fragen sind:
- Wie würde wohl die Projektleiterin die Situation einschätzten?
- Wie sieht das wohl aus der Perspektive der KollegInnen aus der anderen Abteilung aus?
- Wie denken Sie, ist das Verhältnis zwischen Frau X und Herrn Y?
- Haben Sie Vermutungen, wie es den anderen Führungskräften mit den Veränderungen ergangen ist?
- …
Skalierungsfragen
Bei Saklierungsfragen werden Einschätzungen anhand quantitativer Skalen abgefragt. Die Antworten lassen sich dann durch Nachfragen weiter ausdifferenzieren. Die Fragen sind relevant, um die Komplexität, die bei explorierenden Gesprächen entsteht, kurzzeitig zu reduzieren und die Befragten anzuregen, sich festzulegen. „Allerdings ist der Zahlenwert dabei eher ein Nebenprodukt. Interessant sind vor allem die qualitativen Daten, die im Zuge dieser Frage angestoßen werden.“ (vgl. ebd.) Exemplarische Fragen sind:
- Wie würden Sie die Intensität des Konflikts auf einer Skala von 0 bis 10 (0 ist der niedrigste, 10 der maximale Wert) bewerten?
- Was müsste passieren, damit ihre Bewertung 10 ist?
- Was müsste passieren, damit sich die Bewertung verändert?
- …
Hypothetische Fragen
Hypothetische Fragen, also Fragen nach dem „Was wäre wenn….“ leiten Nachdenkprozesse ein, bisherige Erklärungsmuster erweitern können. Die Befragte kann eine eigene „Realität“ entwerfen und gefahrlos (da ohne Notwendigkeit zumunmittelbaren Handeln: es ist ja „nur“ ein Gedankenexperiment) über neue Möglichkeiten nachdenken. Bekannt ist die sog. Wunderfrage (siehe erste Beispielfrage):
- Was würde geschehene, wenn die Schwierigkeiten, die gerade im Projekt aufgetreten sind, schlagartig verschwunden wären?
- Was wäre dann anders?
- Was würde sich nicht ändern?
- Was würden Sie persönlich anders machen?
- Wer würde es als erster merken? Wer als letzter?
Lösungsorientierte Fragen
Oft wird viel Zeit in die Beschreibung der Probleme, bspw. in Projekten, investiert. Jedoch ist fraglich, ob dieses genaue Verständnis der Probleme überhaupt notwendig ist, um zu befriedigenden und stabilen Lösungen zu kommen? Hier setzen lösungsorientierte Fragen an:
- Wann läuft es gut?
- Was ist dann anders, als wenn es schlecht läuft?
- Was wird in diesen Situationen getan, damit das Problem nicht auftritt?
- Was muss passieren, damit Ausnahmen häufiger auftreten?
- Wer kann wie dazu beitragen, dass die Ausnahmen häufiger werden?
Über diese Fragen wird es möglich, schwierige Situationen differenzierter zu beschreiben und Ansatzpunkte zu finden, wie eine zufriedenstellendere Gestaltung der Situation möglich ist.
Paradoxe Fragen
Diese Fragearten liefern ein besonders hohes Irritationspotential. Die zunächst seltsam wirkenden Fragen liefern jedoch neue Möglichkeiten, wie das Geschehen durch die Befragten aktiv gestaltet werden kann. Durch paradoxe Fragen werden eigene Anteile und Handlungsmöglichkeiten bei scheinbar schicksalsgegebenem Scheitern von Projekten sichtbar:
- Wie könnte man die Situation schlimmer machen?
- Wer müsste was machen?·
- Was könnten Sie persönlich dazu beitragen?
- Wie gelingt es der Projektgruppe, dass ihre Vorschläge vom Vorstand nicht aufgegriffen werden?
Metaphorische Fragen
Bei metaphorischen Fragen wird nach Metaphern oder kreativen Beschreibungen für zentrale Begriffe gefragt. Sie dienen dazu, Beschreibungen auszudifferenzieren und mit tendenziell emotional aufgeladenen Bildern anzureichern. Beispielhaft:
- Wenn das Projekt ein Schiff wäre, wie würde es aussehen? Luxusdampfer? Kanu? Elegante Jacht?…
- Welche Farbe hätte es?
- Welche Projektgruppenmitglieder hätten am Schiff welche Funktion?
- Wie sind die Wetterbedingungen auf der See?
- …
Systemische Fragen im Kontext von Führung und agilem Management
Agilität im Kontext von Organisationen lässt sich als „die Fähigkeit von exzellenten Unternehmen, flexibel, aktiv und anpassungsfähig auf Marktveränderungen zu reagieren“ (Hofert, 2016, 6ff) definieren. Diese Definition grenzt agile Organisationen damit zur Starrheit bürokratischer Organisationen ab.
Agiles Management
Agiles Management bietet darauf aufbauend Methoden, Tools und Herangehensweisen, die Teams und Organisationen befähigen, unter hochkomplexen Bedingungen, flexibel, anpassungsfähig und schnell agieren zu können. Die sinnvolle Zusammenarbeit aller Beteiligten, vom Mitarbeitenden über den Nutzer bis zum Vorstand, steht vor dem Befolgen vorgegebener Prozesse. Ziel agilen Managements ist es, einen möglichst hohen Nutzen für alle Beteiligten zu stiften.
Agiles Management basiert auf dem Menschenbild, dass Menschen grundsätzlich motiviert sind. Die Menschen wollen Verantwortung übernehmen und sind in der Lage, die Verantwortung auch in sinnvolle Handlungen zum Nutzen aller umzusetzen. Die Selbstorganisation der Teams wird damit zu einem wesentlichen Prinzip agilen Arbeitens.
Diese agile Grundhaltung als Basis muss insbesondere bei den Führungskräften verankert sein, damit die Entwicklung hin zu einer agilen Organisation nicht zur trendigen Welle verkommt, die – wenn es schwierig wird – durch die Führungskräfte wieder eingeebnet wird. Agiles Management ist damit weit mehr als eine einfache Technik, die mal ebenso eingeführt wird. Thomas Michl sieht entsprechend die Haltung als ausschlaggebend für gelingende Agilität in Organisationen.
Selbstorganisation und Führung
Schon bei dieser mehr als kurzen Einführung in agiles Management wird deutlich, dass auf der einen Seite die Selbstorganisation der Teams relevant ist: Nicht mehr Anweisungen und Dienst nach Vorschrift stehen im Zentrum, sondern die Zusammenarbeit der Menschen in sich selbstorganisierenden Teams. Dazu gibt es selbstverständlich Methoden, die die Teams nicht im Chaos versinken lassen.
Auf der anderen Seite sind die Führungskräfte entscheidend, die – basierend auf einer agilen Grundhaltung – ihre Rolle neu definieren: Weg vom „Vorgesetzten“, hin zum Begleiter, Impulsgeber, Potentialentfalter.
Und hier schließt sich der Kreis:
Wenn Führungskräfte ihre Organisation, ihre Abteilung, ihr Team und ihre Teammitglieder auf den Weg agilen Arbeitens „bringen“ wollen, müssen sie mit einer anderen Haltung auch an die Gespräche mit ihren Mitarbeitenden herangehen.
Die oben beschriebenen systemischen Fragen sind wunderbare Möglichkeiten, die Richtung zu ändern:
Weg von dem Vorgesetzten, der alle Antworten vorab weiß und als „allwissend“ über allem schwebt, hin zur Begleitung und Entwicklung der Mitarbeitenden zur Verantwortungsübernahme, ganz im Sinne von Hüther im Film „Die stille Revolution“:
„Im Grunde genommen brauchen wir Führungskräfte, die es verstehen, Menschen zu helfen, ihre eigenen Potentiale entfalten zu können. Wir haben ein Problem, dass wir gar nicht wissen, wie wir anderen Menschen helfen sollen, dass sie endlich in ihre eigene Kraft kommen.“
Vorbild für die Kultur der Organisation
Führungskräfte sind darüber hinaus auch Vorbild, ob Sie dies nun wollen oder nicht:
Damit geht einher, dass Sie durch Ihr Verhalten die Kultur in Ihrer Organisation, Ihrer Abteilung, Ihrem Team beeinflussen.
Wenn Sie (bewusst groß geschrieben) also Ihren Mitarbeitenden mit einer systemischen Grundhaltung, angereichert mit systemischen Fragen, begegnen, werden diese zum Mitdenken und zur Übernahme von Verantwortung angeregt.
Die Frage: „Wie relevant schätzen Sie Projekt XY für Sie persönlich auf einer Skala von 1 – 10?“ im Gegensatz zur Anweisung „Müller, Sie machen ab morgen Projekt XY!“ hat nicht nur eine andere Wirkung, sondern bezieht Herrn Müller ganzheitlich in das Projekt ein. Daraus erwächst auch die Möglichkeit für Herrn Müller, Selbstverantwortung zu übernehmen und persönlich zu wachsen.
Sytemische Fragen in traditionellen Branchen
Abschließend noch ein kurzer Blick, warum Führung über systemische Fragen gerade in den von mir als eher traditionell beschriebenen Arbeitsbereichen der Verwaltung und auch der Sozialwirtschaft erfolgsverspreched sein kann:
Wenn von agilem Management die Rede ist, erwachsen oftmals die Befürchtungen, dass jetzt „alles neu, alles anders“ gemacht werden muss. Selbstorganisation wird in den Köpfen der Mitarbeitenden schnell zu Chaos.
Und einer Verwaltung ein radikal neues, weniger pyramidenförmiges, „agiles“ Organisationsmodell zu verpassen, ist vielleicht wünschenswert. Die Wahrscheinlichkeit, dieses Projekt top-down zum Erfolg zu führen, ist jedoch eher gering (und wahnsinnig aufwendig).
Die geschilderte Vorgehensweise erlaubt hingegen, innerhalb bestehender Strukturen die Verantwortungsübernahme der Mitarbeitenden anzuregen und dadurch die Organisations- und Kommunikationskultur „bottom-up“ in Richtung Agilität, Innovationsfähigkeit und Selbstorganisation zu beeinflussen.
Sehr schöner Artikel mit systemischer Sicht, der zeigt, wie Veränderungen im Sozialen Bereich möglich wäre.
Wenn agiles Management und
Anerkennung zentraler Wert einer Unternehmenskultur „innerhalb“ der Wohlfahrt wird, müssen Führungskräfte Wertschätzung (vor)leben. Wenn ausschließlich die Mitarbeitenden selbstständig, innovativ, reflektierend und veränderungsbereit sind, dann sind alte Organisationen der Sozialen Arbeit wie ein großer Tanker, der lange Zeit braucht für eine Wendung.
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