Am 5. und 6. Juni 2018 fand in Marburg das 23. Archivwissenschaftliche Kolloquium statt. 200 Archivarinnen und Archivare hörten zwei Tage lang über 20 Vorträge zu „E-Government und digitale Archivierung“ und führten lebhafte Diskussionen. Auch das Forum Agile Verwaltung war eingeladen zu einem Referat über „Die digitale Akte und die Expertenrolle der Archivwissenschaft“.

In meinem Vortrag ging es mir darum, eine vermittelnde Position zwischen zwei Extremen vorzustellen und für sie zu werben: auf der einen Seite gibt es Stimmen, die die vorfindlichen Aktenpläne verteidigen und auch in eine DMS-Software überführen wollen.Und auf der anderen Seite findet die Position Unterstützung, die jede aktenförmige Ordnung für überholt erklärt.
Die „bewahrende“ Strömung schreibt den Trend der letzten 25 Jahre – in denen eine ungeplante, spontane, vielfach ungeordnete Einführung elektronischer Arbeitsweisen an Büroarbeitsplätzen in der Verwaltung wie der Industrie stattfand – einfach fort. Diese Tendenz kann man einfach mit „Übertragung von Denkweisen aus der Papierwelt in elektronische Medien“ charakterisieren.
Damit wurden aber die Möglichkeiten der neuen digitalen Plattformen nicht wirklich erkundet und genutzt. Insbesondere der gemeinsame ämterübergreifende Zugriff auf Dokumente und Vorgänge – der ja eigentlich den großen Zuwachs an Freiheit in der täglichen Arbeit darstellen könnte – wurde ignoriert und das enge Zuständigkeitsdenken und die Ablage in engen Silos beibehalten. Ging vermutlich auch nicht anders, könnte man entschuldigend sagen – denn es war eben ein ungeplanter Prozess.
Jetzt aber hätten wir die Chance, die Umsetzung der eGovernment-Gesetze zu einer gründlicheren Reflektion zu nutzen. Warum nicht einfach mal einen Schritt zurücktreten und sich zwei, drei Monate nicht gleich in Ausschreibungen stürzen, um hastig zusammengestoppelte Leistungsverzeichnisse auf europaweite Ausschreibungsplattformen zu laden?
Die vorhandenen aktenpläne sind für Mitarbeiter weitgehend unverständlich
Dabei bestünde auch die Chance, eine ganz neue Form von Aktenplänen zu entwickeln. Die bekannten Exemplare (im kommunalen Bereich z. B. der Boorberg-Aktenplan in Baden-Württemberg, der EAPl in Bayern oder auch der KGSt-Aktenplan) stammen alle noch aus der Papierwelt. Sie sind historisch gewachsen, vor allem aber stellen sie immer einen Kompromiss dar zwischen systematischen Gesichtspunkten und Rücksichtnahme auf die konkreten Einschränkungen, die Papierordner mit sich bringen.
Das bereitet Probleme bei der Akzeptanz durch die Mitarbeiter. Die Aktenpläne stellen ein Mischmasch dar aus verschiedenen Ordnungssystemen, die ineinander geschachtelt sind. Da gibt es
- objektorientierte Aktenplaneinträge (z. B. „037 Personalakten“ oder „0430 Dienstgebäude“), bei denen für jedes Objekt (für jeden Mitarbeiter oder jedes Gebäude) eine Akte angelegt wird;
- prozessorientierte Aktenplaneinträge (z. B. „042 Landtagswahlen“ oder „0452 Beschaffungsmaßnahmen“), bei denen eigentlich pro Vorgang eine Akte angelegt werden müsste;
- themenorientierte Aktenplaneinträge (z. B. „0060 Allgemeines Verwaltungsrecht“ oder „0470 Rechtsgrundlagen der IuK-Technik“), bei denen Akten für jedes Unterthema zu bilden sind. (Alle Beispiele aus dem Einheitlichen Aktenplan Bayern).
Diese Verschachtelung verschiedener Gesichtspunkte in einer einzigen Liste macht es Mitarbeitern ungeheuer schwer, den Aktenplan zu verstehen und ihn anzuwenden. Daraus resultiert wiederum ein spontaner Widerstand gegen den Aktenplan, der als behindernd, überflüssig, Schnee von gestern angesehen wird und insgesamt eine einzige Schikane darstelle.
Sirenengesänge aus der IT: Lasst uns doch einfach Googeln!
Angesichts dieser Skepsis von Mitarbeitern erheben sich Stimmen (ich nehme sie vorwiegend im IT-Umfeld wahr – und zwar sowohl in EDV-Abteilungen der Verwaltung wie in Softwarehäusern, die DMS-Produkte herstellen), die jede aktenförmige Ablage als veraltet abtun. Kürzlich sagte mir ein CIO einer großen Bundesbehörde (1.050 Mitarbeiter): „Ach, Herr Steinbrecher, Dokumentenmanagement ist doch völlig überholt. Akten? Wozu soll das gut sein? Wir brauchen überhaupt keine Ordner mehr! Wir werfen alle Dokumente in einen großen Sharepoint-Topf und fischen sie mit intelligenten Suchalgorithmen wieder raus.“
Wozu braucht man also Ordner?
Ordner spiegeln Kontexte wider. Kontexte sind von Menschen (von einzelnen Beschäftigten oder im Team) definierte Sinnzusammenhänge. Darin lassen sich Dokumente, Aktivitäten und anderes einhängen.
Ein Beispiel aus dem realen Leben.
Ein Sachbearbeiter der Personalabteilung erhält eine E-Mail aus der IT-Abteilung. Daraufhin legt er einen Vorgang an: „Personalbeschaffung Systemadministrator zum 1. Oktober“. In diesen Vorgangsordner legt er alle anfallenden Dokumente (Stellenprofil, Anzeigen bei der Bundesagentur, im Intranet und in Zeitungen, eingehende Bewerbungen, Aufzeichnungen von Vorstellungsgesprächen, schließlich ein Arbeitsvertrag mit Liliane Friemann).
Nach ein paar Wochen stellt sich heraus: Frau Friemann hat große Probleme beim Umgang mit der UME von SAP. Aber ihre Aufgabe ist doch gerade die Useradministration!
Der IT-Leiter sieht sich die Aufgabenbeschreibung im Arbeitsvertrag AVERTRAG_Friemann,Liliane.pdf an. Da ist zwar allgemein die Rede von Benutzerverwaltung, aber nur von Windows, nicht von SAP.
Wie konnte das passieren? Er schaut in den Einstellungsvorgang und liest noch einmal die ausgefüllte Checkliste vom Vorstellungsgespräch PROTOKOLL_Friemann_Sysadmin.xlsx. Merkwürdig, auch da kein Wort von SAP.
Stellenprofil her! STPROFIL_04.2.15_Sysadmin_2018-10.pdf. Nix von SAP. Aber das ist ja auch das spezielle Profil. Wie sieht es mit dem Musterprofil aus? Welches wurde denn da verwendet? Ah! STPROFIL_Sysadmin(allgemein)_MUSTER_20150307.docx. Das falsche Stellenprofil wurde verwendet. Das Profil Sysadmin(FModule) wäre das richtige gewesen. Jetzt ist klar, wann welcher Fehler passiert ist!
Dieses „Hochhangeln“ von einem Dokument zu seinem Vorgänger ist nur eine von mehreren typischen Aufgabenstellungen, die mit „Googeln“ oder auch „Künstlicher Intelligenz“ nicht gelöst werden können. Wie soll ein Suchalgorithmus, der ja immer nur auf das Finden eines einzelnen Dokuments ausgerichtet ist, den Zusammenhang zwischen verschiedenen Dokumenten darstellen können? Er kann es nicht, weil auch ein Mensch (mit unendlich hoher Suchgeschwindigkeit) es nicht könnte.
Denn die benötigten Dokumente haben kein einziges Metadatum gemeinsam. (Metadaten hier als Windows-Dateinamen dargestellt, aber das ändert nichts an der Grundstruktur). Manche der Dokumente tragen einen Verweis auf die Person, manche auf die Stellenart, aber kein Metadatum zeigt auf alle der benötigten Dokumente.
Allgemeine Regel: Man kann einen Sinn (d. h. den auf ein Ziel ausgerichteten Kontext von einzelnen Datenobjekten) nicht wiederfinden, der beim Indexieren („Ablegen“) dieser Objekte verloren ging. Wer denkt, Künstliche Intelligenz könnte das, hat KI nicht verstanden.
Das Denken in Einzeldokumenten statt in Vorgängen ist meines Erachtens ein Reflex des geschwundenen Bewusstseins vom gesellschaftlichen Zusammenhang. „Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen“, ist als zentrale programmatische Aussage Margaret Thatchers für ihre politische Vision in Großbritannien überliefert. Auf einer anderen Bühne heißt der Satz „Es gibt keine Vorgänge, es gibt nur einzelne Dokumente und Tätigkeiten“.
Mehrdimensionale aktenpläne für die digitale Zeit
Die merkwürdig unübersichtliche Struktur der vorfindlichen Aktenpläne rührt natürlich daher, dass Akten auf Regalen oder in Hängeregistraturen untergebracht werden mussten. Die eindimensionale Reihung durfte nicht durchbrochen werden. Auch das Windows-Filesystem hat diese eindimensionale Ordnung übernommen – die Baumstruktur der Windows-Ordner ist ebenfalls eindimensional.
Wenn wir jetzt aber vor der Einführung der E-Akte stehen, dann ist diese Einschränkung hinfällig.

In einem (guten) Dokumentenmanagementsystem können wir problemlos einen Vorgang sowohl einem Prozess als auch einem oder mehreren Objekten zuordnen. Nehmen wir als Beispiel den Prozess „Baugenehmigungen bearbeiten“. Einen konkreten Vorgang kann ich mit drei Mausklicks
- dem Prozess „6024 Baugenehmigungen“
- dem Objekt Nr. 1 „Flurstück 4321/24“ bzw. „Karlstraße 21, Gemarkung Untertal“
- dem Objekt Nr. 2 „Antragsteller/Eigentümer Gesine Meyerbeer“ (mit hinterlegten Adressangaben usw.)
zuordnen. Mache ich das mit allen Vorgängen, dann kann ich mir als Sachbearbeiter jederzeit
- eine Prozesssicht anzeigen lassen („alle Baugenehmigungen, die unser Sachgebiet im letzten Monat bearbeitet hat“);
- eine Flurstücksakte (alle Vorgänge der letzten 5 Jahre zur Karlstraße 21, also die Bauanträge, Statikprüfungen und Nachbarschaftsbeschwerden);
- eine Eigentümerakte über Gesine Meyerbeer (auch über die Jahre vor 2008, als sie noch Gesine Hardtbeuer hieß).
Mehrdimensionale Aktenpläne, wie ich sie hier als erste Idee skizziert habe, sind für Sachbearbeiter (also Nicht-Fachleute) sehr viel logischer und übersichtlicher. Sie wirklich konkret und im Einzelnen auszuarbeiten – dazu braucht es noch sehr viel Sachverstand. Und wer verfügt über diesen Sachverstand, wenn nicht gerade die Archivare?
Die Rolle der Archivare als Experten
Aus meinen beschränkten Erfahrungen habe ich den Eindruck, dass sich Archivare bislang nur vereinzelt in E-Akten-Projekte der Verwaltungen einbringen (auf dem Kolloquium letzte Woche gab es hingegen sehr beeindruckende Gegenbeispiele). Vor allem aus Fragen der Software-Auswahl halten sie sich heraus. Dabei könnte gerade hier ihr kritischer Blick hilfreich sein. Viele Software-Hersteller haben sich nämlich mit ihren Produkten auch darauf beschränkt, Papierstrukturen in DMS-Datenbanken abzubilden und dann einen klassischen Aktenplan zu hinterlegen. Alles was darüber hinausgeht, würde Programmieraufwand bedeuten und das gemütliche Lizenz-Verkaufs-Geschäft nur stören, in dem man sich so komfortabel wie gewinnbringend eingerichtet hat. Ein wenig Nachfragen von Seiten der Experten der Schriftgutverwaltung könnte da manchem Projekt gut tun.
Wir vom Forum Agile Verwaltung würden gerne mit Archivaren in Dialog treten, die nicht unbedingt unsere Lösungsideen teilen, aber den Anspruch, die Verwaltung in einem nachhaltigen Sinne fit zu machen für die digitale Akte.
Den Vortrag könnt ihr hier downloaden: VORTRAG 23. Archivwissenschaftliches Kolloquium 2018-06-06
Eine aktuelle Version dieses Artikels findet ihr immer auf unserer Wissensplattform unter http://agilesverwaltungswissen.org/index.php?title=Aktenplan
Spannender Artikel zum „Endlos“-Thema Aktenplan. Zunächst finde ich es gut, dass Sie sich des Themas Aktenpläne annehmen. Ich teile auch viele Punkte der Analyse. Ich würde aber noch etwas ergänzen.
– Die Einbeziehung der Archivare in die Diskussion finde ich gut. Zu oft bleiben diese außen vor
– Ich kenne Verwaltungen, die sich al.line mit der Abstimmung der Aktenpläne unglaublich schwer tun und Angst davor haben, mit einer falschen Systematik zu arbeiten.
– Manchmal ist es gut, überhaupt ein Ordnungssystem zu haben und da nicht mehr drüber nachzudenken. Egal wie man zu dem bayerischen Aktenplan steht. Er ist gesetzt und man kann loslegen.
– Die Systematiken haben alle das Problem der Veränderung. Egal ob man Kostenstellen, die Organisationsstruktur oder die Prozesse zugrunde legt. All diese Systematiken sind auch Veränderungen unterworfen. Das bedeutet, dass unter Umständen mehrere Systematiken auch durch die zeitliche Veränderung entstehen.
– Aus meiner Sicht erfolgen 90% der Zugriffe auf Akten innerhalb eines Fachbereichs, eines Fachamts oder einer Organisationseinheit. Warum sollte nicht der Aktenplan eine einheitliche Oberstruktur haben und die Fachbereiche organisieren darin ihre Nomenklatur selbst. Das wäre für mich ein Best of Breed Ansatz 🙂
– Die Idee der mehrdimensionalen Aktenpläne finde ich nachvollziehbar, aber in der Handhabung zu komplex und für die Organisation insgesamt überfordernd.
Soweit meine Sicht.
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