In den letzten Wochen häufen sich die Anfragen nach Workshops und Inputs oder Begleitung, in denen es darum geht, wie es gelingen kann
- bei anstehender Veränderung mitzuhalten,
- nicht der Angst vor dem fremdneuen handlungslähmend nachzugeben oder
- in den veränderten Umwelten einen Platz und eine Rolle zu finden.
Besonders Führung ist vieldiskutiert als statisch – hierarchisch – veraltet – uncool unagil… Führungskräfte – und meiner Erfahrung nach insbesondere Führungskräfte von Führungskräften – sind spürbar verunsichert.
Einordnung und Verortung
In der Welt des Change-Managements (darf man das eigentlich noch so nennen?) oder, extremer formuliert, der Transformation wird von Phasen der Veränderung gesprochen. Je nach Schule, Herkunft und Autor sind das meist 7 bis 9 Etappen, die eine Person in Veränderungsprozessen – auch emotional – durchläuft. Hier zur Erinnerung eine frei formulierte eigene Version mit Beschreibung von Phasen in Veränderungssituationen:
Als letzte Phase stand zumeist so etwas wie ‚Ankunft im Neuen‘. Oder ‚Das neue Normal‘. Ganz früher mal ‚Re-Freeze‘. Wie realistisch das als Erwartung oder Ziel heute ist, darüber scheiden sich die Geister.
Nun steht im Zusammenhang mit VUCA, Digitalisierung, Arbeit 4.0. etc. nicht nur jede Person irgendwo an oder zwischen solchen Etappen, sondern auch Systeme, Organisationen, Abteilungen, Führungsebenen und Teams folgen oft solch einem Verlauf. Oder eine ganze Gesellschaft. Nicht alle gleichzeitig am gleichen Ort, nicht alle gleich lange an den einzelnen Plätzen, manche durchlaufen nicht alle oder ganz andere Phasen. Es kann helfen, sich und die anderen und die eigene Umwelt einmal auf die Zustände in den Phasen hin anzusehen, um etwas bewussten Überblick über mögliche Ängste, Erwartungen und Handlungserklärungen zu finden. Als Schnappschuss und Momentaufnahme. Als Orientierung und vielleicht sogar als „wo komm ich her, wo geh‘ ich hin“. Oder wir. Komplexe Situation, einmal mehr.
Schritt für Schritt ins Neue… ohne den zweiten vor dem ersten zu machen
Prof. Hans A. Wüthrich brachte neulich auf einem Vortrag, den ich geniessen durfte, ein für mich eindrückliches metaphorisches Beispiel, das mir im Umgang mit Veränderung seither hilft: Als die ersten Motorkutschen, also Wagen ohne Pferdeantrieb, konzipiert wurden, war klar, dass da etwas wegweisend Neues unterwegs war. Interessant dabei ist, dass die Motorkutsche im Verständnis der Erfinder nicht direkt als Individualfahrzeug gedacht war. Die Idee war vielmehr, dass der ehemalige Kutscher als Chauffeursfachperson weiter fester Bestandteil des Konzepts war. Denn der Schritt von der Kutsche mit Pferden und mit Kutscher zum Auto ohne Pferde UND ohne Kutscher war vor dem Hintergrund des Bekannten selbst für die innovativen Erfinder zu gross. Dass sich das Auto dann in einem nächsten Schritt zum Fahrzeug, das jeder und jede einfach selbst fahren kann, entwickelte, ohne Fahrspezialisten, brauchte noch etwas mehr Zeit und Zwischenerfahrung.
Selbst die Visionärsten und Kreativsten können die Entwicklung, die sie sogar selbst anstossen, nicht wirklich steuern und kontrollieren. Das enthebt mich als reiner Teil solcher Entwicklungen vom Druck, alles vorher wissen und überblicken zu müssen zu glauben.
Möglichkeiten und Nutzen
Veränderung übt Druck aus:
- Mit dem Neuen klarkommen zu sollen / wollen / müssen,
- zu merken, dass „alte“ Erfahrungen, Errungenschaften, Positionen und erlerntes bewährtes Wissen als Werkzeug nur bedingt – oder gar nicht – funktionieren,
- als Führungsperson ähnlich perplex vor den Entwicklungen zu stehen wie die Mitarbeitenden und selbstempfunden damit der Führungsrolle nicht gerecht werden,
- …
Dem Druck und dem Aushalten-Müssen kann versucht werden, möglicher Nutzen und sich öffnende Möglichkeiten gegenüberzustellen… als „nicht nur, sondern auch“- Logik. Was kann denn vielleicht das Neue, was das Alte vermissen liess:
Die Führung ist tot … – es lebe die Führung …
Und Führungspersonen und Führungshaltungen können eine zentrale und wichtige Rolle einnehmen. Sogar mehrere. Auch und gerade jetzt. Denn in Zeiten der Veränderung braucht es viele Faktoren, die zwischen Unsicherheit, Entwicklungsdrang, Zusammenhalt und Zusammenarbeit, Orientierung und Chancen-nutzen wichtige Fäden spannen. In einem ersten Brainstorming kam ich auf zum Beispiel folgende wichtige Führungsrollen und -aufgaben (die weibliche Form ist als selbstverständlich vorausgesetzt und deshalb nicht immer mit ausformuliert):
Damit ist Führung (sei es in Form einer Person, sei es als auf mehrere Schultern situtativ immer wieder neu verteilte Aufgabe, vor allem eins: Nah dran. In der Situation dabei. Jede der Führungssrollen ist wichtig für eine gemeinsame Entwicklung von Personen, Teams, Abteilungen und Organisationen. Es ist tatsächlich weniger Fachführung, aber es sind neuralgische Punkte, mit dem Führungswirken bei der Erreichung von Zielen und Produktivität unschätzbare Dienste leistet. Und oft wirkungsvolle Hebel, um schwierige Situationen aufzulösen und Fortkommen zu ermöglichen.
‚Sandboxer‘ zum Beispiel heisst, dass eine Führungsperson einer Person, einer Abteilung oder einem Team die Möglichkeit bieten kann, in einem eigenen Rahmen Wege auszuprobieren, ohne dass sie in der Testphase Konsequenzen oder Auswirkungen auf den laufenden Betrieb haben. Der Begriff Sandbox kommt aus dem Softwaretesting.
‚Fragensteller‘ [und mitnichten Fragenbeantworter] will sagen, dass es eine wichtige Kunst ist, relevante, offene Fragen zu stellen – und zwar übergreifende, nicht unbedingt naheliegende, über das unmittelbar Vorliegende hinausgehende Fragen. Das ist eine hohe Kunst, die erlernbar ist – man kann das meist nicht ‚einfach so‘. Und das kann eine Führungsperson aus ihrer Rolle heraus eher als jemand mit einer präzisen Fachverantwortung.
‚Systemsichtvertreter‘ – auch das eine prädestinierte Rolle der Führung. Das grosse Ganze zu vertreten, die Strategieebene, die lange Sicht und die komplexe Umgebung miteinzurechnen und nichtanwesende Systemelemente anwaltschaftlich zu vertreten, ist ja heute auch schon Teil der Führungsaufgabe.
‚Situations- und Konfliktbenenner‘ [nein, eben nicht -löser] ist eine enorm wertvolle Funktion. Zu formulieren, wie sich das, was geschieht, darstellt und es damit für alle greifbar zu machen, hilft in vielen Fällen und Fragen weiter und erlaubt dem Team, seine Fachlichkeiten und Inputs gezielter einzubringen.
Zu jedem dieser neuen „Führungsberufe“ liesse sich ein eigener Artikel schreiben. Und ich erkläre mich sehr gerne bereit, jeden davon auf Wunsch und Nachfrage auszudeutschen, weiterzuentwicklen, weitere dazu zu erfinden oder gemeinsam zu diskutieren.
PS: Der Titel „Wenn du loslässt, hast du plötzlich zwei Hände frei“ ist mir hier begegnet:
http://barfi.ch/News-Basel/Tag-der-Mediation-in-Basel-Wenn-Du-loslaesst-hast-Du-ploetzlich-zwei-Haende-frei
Darauf freue ich mich schon:
„Zu jedem dieser neuen „Führungsberufe“ liesse sich ein eigener Artikel schreiben. Und ich erkläre mich sehr gerne bereit, jeden davon auf Wunsch und Nachfrage auszudeutschen, weiterzuentwicklen, weitere dazu zu erfinden oder gemeinsam zu diskutieren.“
LikeLike