Mein Sohn ist in der Ferienbetreuung im Dorf nebendran angemeldet. Ich bin es gewohnt, dass die Betreuungszeiten (außerhalb der Schulferien bei der verlässlichen Schulbetreuung 7:00 – 15 Uhr) keine Vollzeitbeschäftigung für beide Eltern zulassen, bin aber auch sehr froh, dass die Gemeinde „ausnahmsweise“ die Vorschulkinder (zu denen mein Sohn gehört) dieses Jahr zu der Ferienbetreuung zugelassen hat. Somit können wir zumindest ein bisschen von dem Berg an Arbeit, der sich von März bis Mai angesammelt hat, abarbeiten. Es gibt nur ein Problem. Die Verpflegung (also das Mittagessen) habe ich für die vier Wochen mitgebucht. Nach der ersten Woche hat das Kind festgestellt, dass seine Freunde zu Hause essen und er allein mit den anderen Kindern essen muss. Er bat mich darum, das Essen abzubestellen, essen könne er ja mit uns zu Hause. Eine Mail an die Gemeinde ergab die Antwort, dass „die Bestellung bereits abgegeben ist und keine Veränderungen vorgenommen werden können“. Für die gesamten vier Wochen.

Als Elternteil ist man in Deutschland auf ein System angewiesen, das von der Geburt bis zum Schulabschluss und dann noch in die Studienzeit hinein das Leben zwischen dir und deinem Kind beeinflusst. Es fängt mit der Geburtsurkunde an, die man ja vom Wochenbett aus irgendwie zwischen Milchstau und Schlafmangel ausfüllen und abgeben muss (immer mit der Angst, dass der Name des Kindes irgendwie im Halbdelirium falsch geschrieben wird). Danach die Kita- oder Kindergartenanmeldung und das Bangen, ob man einen Platz bekommt. Kindergeld, Ferienbetreuung, ein finanzielles und logistisches Jonglieren, um Job, Care-Arbeit und Zeit mit Kind irgendwie hinzubekommen. Und das selbst für Menschen, die ein sicheres Einkommen haben und die Behördensprache verstehen. Je nach Kind und zeitlicher Flexibilität kommen dann noch Hobbys, Hausaufgabenbetreuung, Sport und vieles mehr dazu, die teilweise – aber nicht immer – mit oder durch eine öffentliche Stelle angeboten und gefördert werden. Die überwältigende Anzahl an Möglichkeiten und die nur teilweise vorhandenen oder auch fehlenden Verknüpfungen zwischen Angeboten für Eltern und öffentlichen Stellen macht es für viele Eltern zu einer echten Herausforderung, ihr Leben zu organisieren. Dazu kommen noch die Sprechzeiten im Amt, fehlende digitale Anmeldemöglichkeiten, lückenhafte Information und langsam wachsende Kenntnis, dass eine Sprachenvielfalt von Bedeutung wäre.
Aber eine Sache steht für Eltern im Mittelpunkt: Flexibilität. Kinder werden krank, sie verlieren die Lust an bestimmten Angeboten, sie wechseln Freundschaften, Affinitäten, Bekanntenkreise über Nacht. Heute mögen sie Karotten, morgen nicht. Um Eltern zu unterstützen und ihr Vertrauen und Mitarbeit zu gewinnen ist eine kundenzentrierte Vorgehensweise bei Dienstleistungen, die für sie gedacht sind, von zentraler Bedeutung. Was kann eine Verwaltung zum Beispiel online anbieten, so dass der Gang zum Amt hinfällig wird? Welche Dienste können verknüpft werden, so dass das mehrfache Ausfüllen von Formularen zur Erfassung immer gleicher Informationen wegfällt? Wie können Sprechzeiten dezentral und an Nachmittags- und Abendstunden angeboten werden, so dass Eltern die Integration in den Arbeitsmarkt erleichtert wird? Welche Angebote muss es unbedingt in unterschiedlichen Fremdsprachen geben, sodass Kinder auf Grund der vorhandenen bzw. nicht vorhandenen Sprachkenntnisse ihrer Eltern nicht ausgeschlossen werden? In Estland zum Beispiel müssen frischgebackene Eltern keinen extra Antrag abgeben bei der Behörde, sondern eine Meldung wird direkt vom Krankenhaus ans Amt geschickt. Die Mutter bekommt eine E-Mail, mit der sie die Geburt bestätigt, und das Kindergeld wird überwiesen. Das spart viel Geld und vereinfacht das Leben der Familie.
Gerade jetzt, wo sowohl das Familien- wie auch das Arbeitsleben komplett neu durchdacht werden muss und wir in Zeiten leben, in denen die Unsicherheit überwiegt, ist es eine Aufgabe der öffentlichen Verwaltung, agile Prinzipien in der Versorgung von Menschen mit Kindern aufzunehmen. Agile Prinzipien heißt hier, dass nicht die Leitkultur „Wir planen und so wird es dann gemacht, ganz gleich was drumherum passiert, denn unser Abläufe sind so gebaut dass sie nur nach Standard-Schema F funktionieren“, sondern „Unsere Aufgabe und unser Ziel ist, die Zielgruppe Eltern und Familien mit Leistungen zu versorgen. Das sind Standardsituationen die Ausnahme, nicht die Regeln und so müssen wir uns auch aufstellen.“
Es muss ein Anliegen der Verwaltung sein, Dienstleitungen so umzugestalten, sodass die Zugangsbarrieren auf Grund von Mobilität und Sprache so gering wie möglich gehalten werden. Mütter, Väter und andere Bezugspersonen, die die kommenden Monate nur schlecht planen können, brauchen flexible Angebote, empathische SachbearbeiterInnen und die Möglichkeit, von Verträgen zurückzutreten. Auch die Angebote, die finanziell auf die Versorgung von Kindern angewiesen sind – vom Sportverein über die Hausaufgabenbetreuung hin zu Kinderkinos und Puppentheater – benötigen schnell anpassbare Konzepte und eine hohe Fehlertoleranz seitens der Verwaltung, um die Wintermonate zu überleben. Und vor allem in der schriftlichen Kommunikation mit Eltern muss bedacht sein, dass sie gerade 2020 bisher eine höchst strapaziöse erste Jahreshälfte hinter sich haben und dass die komplette Gesellschaft zusammengebrochen wäre, wenn Familien nicht in der Lage gewesen wären, sich komplett neu zu organisieren. Mitgefühl, Unterstützung, Empathie von beiden Seiten und ein paar mehr agile Mittagessen sind an der Tagesordnung jetzt.
P.S. Während ich dieser Artikel schrieb habe ich eine Meldung von der Gemeinde bekommen, dass sie „nach Rücksprache mit den BetreuerInnen“ das Essen doch abbestellen können. Geht also doch.