Das Gabler Wirtschaftslexikon beschreibt definiert den Begriff Prozess wie folgt:
„Unter Prozess versteht man die Gesamtheit aufeinander einwirkender Vorgänge innerhalb eines Systems. So werden mittels Prozessen Materialien, Energien oder auch Informationen zu neuen Formen transformiert, gespeichert oder aber allererst transportiert.“
Quelle: https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/prozess-45614; abgerufen am 19.10.2021
Organisationen sind Systeme und in jeder Organisation – auch einer agilen oder besser beidhändigen Organisation – finden Prozesse im genannten Sinne statt, die sich durch Prozessregeln auszeichnen. Die Frage ist, sind sie sinnvoll und zielführend oder sind es bürokratische Molche, die zum Selbstzweck mutiert sind. Anders ausgedrückt: sind sie gesund und befördern die wertschöpfende Arbeit einer Organisation, oder sind sie ungesund, binden Zeit und Ressourcen, die wir sinnvoller verwenden können?
Lean = gesund, nicht schlank
In diesem Sinne sind agile Prozesse „Lean“. Sie reduzieren auf das Wesentliche. Allerdings bedeutet Lean schlank, sondern gesund. Leider wurde Lean in der Vergangenheit und auch heute noch falsch verstanden und auf Kostenoptimierung reduziert. Das ist allerdings nicht die Idee, die damit gemeint ist. Wenn Prozesse aus einem falschen Verständnis von Lean heraus auf ein (ungesundes) „schlankes“ Maß optimiert werden, leidet eine Organisation unter „Magersucht“ (man möge mir verzeihen, wenn ich die Metapher verwende, mir fällt leider kein besseres Bild ein). Die kleinste Störung im System führt zu ungesundem Stress. Im schlimmsten Falle sogar zum Kollaps des Gesamtsystems. Agilität, die Fähigkeit, auf Unvorhergesehenes zu reagieren, geht verloren. Wenn Prozesse zum Beispiel „kostenoptimiert“ werden, ohne das Gesamtsystem im Auge zu behalten, führt dies lokaler Optimierung, die bei der kleinsten Schwankung das Gesamtsystem der Organisation beeinträchtigen kann.
Prozesse müssen gesund sein, nicht „schlank“. Sie müssen ausreichend „Fleisch“ auf den Rippen haben, um Schwankungen auffangen zu können, und dürfen das Gesamtsystem nicht beeinträchtigen, wenn sie in Schieflage geraten. Es geht nicht darum, Prozesse bis auf die letzten Reserven zu optimieren, sondern auf ein gesundes Maß und mit Blick auf das Gesamtsystem zu verbessern und weiterzuentwickeln, so dass wir auch bei außergewöhnlichen Situationen reagieren können. Und gleichzeitig müssen wir sicherstellen, dass unsere Organisation effizient im Umgang mit den Ressourcen ist und bleibt.
Gesunde Prozesse (und gesunde Regeln) sind also so ausgerichtet, dass sie ausreichend Luft und Spielraum für unvorhergesehene Ereignisse lassen, um Schwankungen ohne Stress in der Organisation abfedern zu können. Sie behindern uns nicht. Sie helfen uns, zielgerichtet und flexibel auf unsere Herausforderungen reagieren zu können, die uns im Alltag bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben begegnen. Um gesunde Prozesse zu etablieren, müssen wir immer auch das Ganze ins Auge nehmen.
Eine agile Verwaltung nimmt immer das Ganze ins Auge, nicht nur den einzelnen Prozess. Sie gestaltet Prozesse und die zugehörigen Regeln – auch standardisierte -, so dass wir wirtschaftlich und effizient unsere Aufgaben ausführen können. Gleichzeitig haben wir genug „Spielraum“ in unseren Prozessen und Abläufen, um auf Unvorhergesehnes zielgerichtet im Sinne einer kundenorientierten und anwenderorientierten Sicht reagieren zu können. Doch leider haben wir in der Verwaltung oft mit historisch gewachsenen Prozessen zu tun, die wir selten reflektieren und die alles andere als gesund erscheinen. Was wir also brauchen, sind mehr gesunde Prozesse und Abläufe. Diese versuchen wir durch beständiges Reflektieren und Verbessern zu erreichen. Ganz im Sinne der Kaizen-Philosophie, die wir auch schon mehrfach hier im Blog behandelt haben.
Gesundheitscheck für Prozesse
Wie identifiziert man gesunde und ungesunde Prozesse (und Prozessregeln)? Auf der Suche nach einer Antwort auf diese Frage bin ich im Buch von Jim Benson (Jim Benson, Why limit WiP, Modus Cooperandi Press [2014]: 50) auf eine Matrix gestoßen, mit der ich seither Prozesse und diesen zugrunde liegenden Regeln einem ersten Gesundheitscheck zu unterziehe. In diesem Sinne sind Prozesse und Regeln „Zwänge“ (Benson spricht im englischen Original von Constraints) und Rahmenbedingungen, die unser Handeln beeinflussen. Solche „Beschränkungen“ durch Prozesse können hilfreich oder bösartig sein. Hilfreich im Sinne von Orientierung gebend. Bösartig im Sinne von Reaktions- und Anpassungsfähigkeit einschränkend.
Benson unterscheidet zwei Dimensionen, mit deren Hilfe wir Prozesse beurteilen können:
- Flexibilität
- Effektivität
Flexibilität bedeutet, dass sie uns zwar eine Richtung vorgeben, aber ausreichend Spielraum lassen, um auf Besonderheiten reagieren zu können und so adaptiv wirken zu können. Effektivität bezieht sich auf die Frage, ob sie dazu beitragen, dass wir tatsächlich die Erreichung des Ziels und Zwecks oder auch des Weshalb unterstützen.

Aus der Kombination der beiden Dimensionen ergebens sich 3 Felder, denen sich Prozesse zuordnen lassen:
- mäßig ungesunde Beschränkungen (hohe Flexibiltät, niedrige Effektivität/hohe Effektivität, geringe Flexibilität)
- bösartige Zwänge (geringe Flexbilität, geringe Effektivität)
- gesunde Zwänge (hohe Flexbilität und hohe Effektivität)
Haben wir es mit Prozessen zu tun, die weder flexibel noch effektiv sind, dann sind es bösartige Zwänge zum Schaden aller Beteiligten und der Organisation. Solche Prozesse und Abläufe gilt es vorrangig aufzulösen. „Bösartige“ Prozesse erlauben es uns nicht, auf neue Erkenntnisse und situativ kundenfokussiert und anwenderorientiert im Sinne aller Anspruchsgruppen im agilen Kontext zu agieren, wie es eine agile Verwaltung anstrebt. Sie sind in einem hohen Maß davon geprägt, keinen „Nutzen“ zu stiften und zeichnen sich auch dadurch aus, dass sie zum Selbstzweck geworden sind. Sie lösen kein „Problem“, sie schaffen Probleme. Genau diese Prozesse sollten wir – ganz im Sinne von Kaizen – in den Fokus stellen, wenn wir an die Verbesserung unserer Abläufe und Prozesse gehen, um sie zumindest in den Bereich der mäßig ungesunden Beschränkungen zu überführen, sodass wir Handlungsspielräume zurückgewinnen, um die auf komplexen Herausforderungen reagieren zu können.
Gibt es Beschränkungen auf einer der beiden Dimensionen, haben wir es mit mäßig ungesunden Beschränkungen zu tun. Mit diesen lässt bis zu einem gewissen Grad leben. Sie sollten jedoch auch diese Prozesse im Auge behalten.
Prozesse, die hochgradig effektiv und flexibel sind, uns unterstützen uns im Sinne der Agilität und sind genau, was wir anvisieren. Sie sind gesund. Gesund im Sinne einer beidhändigen agilen Verwaltung. Sie fördern Agilität, statt diese zu bremsen.
Mithilfe dieser Einteilung lässt sich eine erste Einteilung der Prozesse und Abläufe vornehmen. Der erste Schritt ist damit getan. Wir haben Prozesse und Abläufe identifiziert, die unserer Aufmerksamkeit bedürfen und die wir – innerhalb der gegebenen Rahmenbedingungen – verbessern und weiterentwickeln können.
Entscheiden, ob wir „investieren“
Die Verbesserung von Prozessen und Abläufen kostet zuerst Aufwand und bindet Ressourcen. Und da wir wissen, Personalkapazitäten und finanzielle Mittel sind bei der öffentlichen Hand immer knapp. D. h. wir müssen entscheiden, welche Verbesserungen wir umsetzen. Woran können wir festmachen, ob wir den nächsten Schritt gehen wollen? Hier helfen vielleicht die beiden folgenden Leitsätze als Prüfsteine weiter, die im Übrigen auch im Start-up Bauhof in Herrenberg Anwendung finden (Quelle: Claudia Schneider/Birgit-Schenk/StefanKraus: Start-Up Städtischer Bauhof, Springer Gabler [2019]: 8 f).

Jede Idee muss sich daran messen lassen, ob sie für die „Kunden“, also die Bürger*innen und für die Mitarbeiter*innen eine Erleichterung und deutliche Verbesserung einen Mehrwert darstellt. Ist diese gegeben, geht es weiter. Ist das nicht der Fall, machen wir uns – ganz im Sinne der Kaizen-Philosophie – weiter auf die Suche nach Verbesserungsmöglichkeiten. Den als agile Verwaltung streben wir danach, uns beständig weiterzuentwickeln und bessere Wege zu erschließen, effizient und effektiv unseren Auftrag in Zusammenarbeit mit allen beteiligten Anspruchsgruppen zu erfüllen.
Wenn ich lose assoziiert eigene Beobachtungen reflektiere, finde ich zwei grundverschiedene Prozessparadigmen, die in unterschiedlichen Kreisen jeweils unbewusst als normal gelten:
(1) Traditionelle Verwaltungsprozesse als vollständige Ablaufpläne
Solche Prozesse dienen dazu, rechtliche Vorgaben korrekt und konsistent umzusetzen. Dazu programmiert man die Organisation mittels Richtlinien und Ablaufplänen, die detailliert regeln, wie beispielsweise ein eingehender Antrag zu bearbeiten ist. Dabei wandert der Vorgang, identifiziert durch sein Aktenzeichen, durch eine Reihe von genau definierten Bearbeitungsschritten.
Solche Prozesse lassen sich gut als Ablaufpläne in einer Prozessmodellierungssprache ergänzt um Vorgaben für die Bearbeitungsschritte beschreiben. Sie sollen standardisieren und beschränken, um Abweichungen und eigenmächtige Handlungen zu vermeiden. Traditionelle Verwaltungsprozesse werden einmal festgelegt und vielfach auf gleichartigen, nur unterschiedlich parametrisierten Eingaben wiederholt.
(2) Agile Entwicklungsprozesse als minimale Gerüste koordinierender Aktivitäten
Agile Entwicklungsprozesse sollen kreative Arbeit koordinieren, ohne sie zu behindern. Die organisierte Tätigkeit hat explorative Anteile, man kennt das Ergebnis zu Beginn nur ungefähr. Die Beteiligten sollen eigenständig Entscheidungen treffen. Agile Prozessmodelle wie Scrum oder Kanban schaffen einen Rahmen für die Kommunikation und Koordination selbständig handelnder Akteure.
Solche Prozesse lassen sich nicht sinnvoll als vollständige Ablaufplan z.B. für die Bearbeitung eingehender Anforderungen beschreiben. Stattdessen legen sie grob fest, wer wofür verantwortlich ist (z.B. Scrum-Rollen) , und definieren ein Netz aus ineinander greifenden, ebenfalls nur grob definierten Aktivitäten (z.B. Scrum-Zeremonien). Diese Aktivitäten bearbeiten nicht nacheinander einzelne Vorgänge, sondern unterschiedliche Sichten auf den aktuellen Projekt- und Kenntnisstand (z.B. Product Backlog, Sprint Backlog). Viele Einzelheiten bleiben im Prozessmodell ungeregelt und der organisierten Selbstorganisation überlassen.
Treffen Menschen mit unterschiedlichen Prozessparadigmen und -erfahrungen im Kopf unvermittelt aufeinander, führt das zu interessanten Missverständnissen und Konflikten: dann versuchen die einen, so viel Struktur wie in (1) in einen Prozess nach Paradigma (2) zu bringen und die anderen verstehen gar nicht, was das soll und wo das Problem liegt.
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