Ich bin mir nicht sicher, ob eine Welt ohne verschiedene Meinungen oder Weltsichten lebenswerter wäre als die Welt, in der wir leben. Und das ist eine Welt, in der Interessengegensätze oder gar Konflikte alltäglich sind, im Kleinen, wie im Großen. Eine Welt, in der wir fortwährend entscheiden müssen, welche Vorschläge, welche Interessen sich durchsetzen, welche Meinungen die Oberhand gewinnen. Und entscheiden müssen wir, sonst gibt es kein Handeln.
Es gibt viele Methoden, Interessengegensätze aufzulösen. Faustrecht, das Recht des Stärkeren, in letzter Konsequenz Krieg fallen spontan ein. Diese lasse ich beiseite. Hier soll es um zivilisierte Entscheidungssysteme gehen. Genauer um eines davon, welches meiner Meinung nach zu wenig Beachtung findet: das „Systemische Konsensieren“.
Als ich den Begriff von Sven Jung, ein lokaler Promotor des Konsensierens (für mich sogar der Guru) zum ersten Mal gehört habe, fand ich die Wortschöpfung gekünstelt, wenig griffig (tatsächlich denke ich immer noch so, nur ist mir bislang auch kein besserer Begriff eingefallen 😉), aber interessant. Trotzdem ist das SK (wie die Profis das Systemische Konsensieren abkürzen) zunächst aus meinem Blickfeld geraten. Erst als ich kürzlich bei einer Fortbildung zur Gewaltfreien Kommunikation nach Rosenberg gelernt habe, dass Kompromisse, anders als ich immer gedacht habe, nur die zweitbeste Lösung darstellen und der Konsens die anzustrebenden Königsklasse darstellt, fiel mir SK wieder ein.
Entscheidungsstruktur und Kultur
Entscheidungsstrukturen und (Gesellschafts-)Kultur hängen offenbar zusammen. Ob die Entscheidungen, die die Struktur hervorbringt, dauerhaft sind, hängt wesentlich davon ab, ob die Entscheidungen als gerecht empfunden werden. Was als gerecht empfunden wird, kann sich von Kultur zu Kultur unterscheiden, sagt Sven Jung und verweist auf das Beispiel des US-amerikanischen Wahlrechts, wonach die Person als Sieger der Präsidentschaftswahlen hervorgeht, die die meisten Wahlmännerstimmen auf sich vereint und nicht etwa die Person, die die meisten Stimmen erhalten hat. Im Wahlkampf zwischen Donald Trump und Hillary Clinton führte das bekanntermaßen zu einem als ungerecht empfundenen Ergebnis: Donald Trump gewann die Wahl deutlich, obwohl er rund 3 Millionen Stimmen weniger erhalten hatte, als Hillary Clinton:

Die Frage ist also: gibt es Strukturen oder Prinzipien, die als gerecht empfundene Entscheidungen hervorbringen?
Verschiedene Entscheidungsprinzipien im Vergleich
Die folgende Tabelle zeigt die Charakteristika verschiedener Entscheidungsprinzipien. Der entscheidende Punkt ist, wie ich finde, die dauerhafte Akzeptanz der getroffenen Entscheidungen. Hier punktet das Konsensieren ganz klar.

Mehrheitsentscheidung versus Konsens
Beim Mehrheits-Prinzip wird die Zustimmung gezählt. Was nach den vereinbarten Regeln die (zahlenmäßig) größte Zustimmung erfährt, setzt sich durch, stellt die Lösung der Entscheidungsfindung dar. Dieses Entscheidungsverfahren ergibt also Zahlenwerte für die die Wahlalternativen. Es fragt nicht nach Motiven (dafür braucht man die Wahlanalytik im Nachhinein). Komplexe Fragen lassen sich mit dem Mehrheits-Prinzip nur schwer klären. Mehrheitsentscheidungen erzeugen per se Verlierer.
Das Systemische Konsensieren geht ganz anders vor. Hier wird der Widerstand gegenüber den zur Entscheidung anstehenden Vorschlägen gemessen. Es setzt sich durch, was den geringsten Widerstand erfährt. Das Ziel ist, die Gesamtzufriedenheit zu maximieren und den Gesamtwiderstand zu minimieren. Diese Methode ermöglicht die Entscheidung komplexer Fragestellungen, da die Entscheidungsmotive in den Prozess einbezogen werden können.
Ein Beispiel
Ein Arbeitsteam möchte einen erfolgreichen Projektabschluss feiern. Die Frage ist, in welches Lokal? Es gibt mehrere Möglichkeiten. Rasch ist eine kleine Doodle-Abfrage aufgesetzt. Jede Person hat eine Stimme. Das Ergebnis ist klar: Die meisten Stimmen erhielt Vorschlag 3, das chinesische Restaurant.
Zu dumm, dass Person A dessen ungeachtet sagt, sie kann leider nicht mitkommen. Die Mehrheitsentscheidung lässt unberücksichtigt, dass Person A Glutamat nicht verträgt. Die Vorschläge 3 und 4 sind also keine Option. (Ja, das hätte man im Vorfeld klären können. Nur sind nicht alle Entscheidungen so simpel, wie hier im Beispiel.)
Systemisch Konsensiert hätte jede Person für jeden Vorschlag einen Widerstandswert angegeben. 0 für keinen Widerstand, kein Einwand. 10 für absoluter Widerstand, unannehmbar. Wo die Personen beim Mehrheitsvotum ihr Kreuzchen gemacht haben, steht nun – wenig überraschend – eine 0. Interessant wird es bei den Widerständen. Hier hat Person A die Möglichkeit, die Glutamat-Unverträglichkeit mit einem Widerstandswert von 10 zu belegen.
Die Auswertung kommt zu einem anderen Ergebnis als die Mehrheitsentscheidung. Hier würde sich Vorschlag 1, das italienische Restaurant, durchsetzen. Und dieses Mal sind alle zufrieden.

Ablauf des Systemischen Konsensierens
- Zuerst werden alle Vorschläge für mögliche Lösungen gesammelt
- Bei der Abstimmung wird der Widerstand für jeden Vorschlag einzeln gemessen. Die Widerstands-Werte für jeden Vorschlag werden addiert. Der Lösungsvorschlag ist derjenige mit dem geringstem Widerstandswert.
- Wichtig ist, jetzt noch einmal genau hinschauen. Wenn sich, wie im Beispiel oben, hohe Einzel-Widerstände zeigen, sollte man nachhaken und nach Ursachen fragen oder danach, was getan werden kann, um den Widerstandswert zu senken. Wenn sich viele mittlere Widerstände zeigen (Beispiel 2 in der Grafik), ist das ein Hinweis darauf, dass es möglichweise bessere, noch nicht berücksichtigte Lösungen gibt

Anwendung
Die folgenden Beispielfälle illustrieren, wo SK seine Stärken ausspielen kann.
Ein neues Windkraftwerk soll gebaut werden
Die Errichtung neuer Windkraftwerke ist nicht einfach. Konfliktträchtige Aspekte wie Lärmschutz, Natur- und Landschaftsschutz, Wirtschaftlichkeit müssen in ein Gleichgewicht gebracht werden. Wenn das nicht gelingt, drohen langwierige Rechtsstreite. SK bietet die Möglichkeit, in die verschiedenen Lösungsvorschläge auch Kompensationsmaßnahmen einzuarbeiten – beispielweise die Beteiligung der Anrainer oder der Gemeinde an den Einnahmen. Bei der Widerstandsmessung wird dann sichtbar, welche der Kompensationen akzeptabel sind und welche nicht fruchten. Mit einer bloßen Ja-Nein-Abstimmung, kommt man solchen Fragen nicht auf die Spur.
Ein abgelegener Ortsteil soll besser angebunden werden
Die Herausforderung besteht darin, dass sehr verschiedene Lösungsansätze gegeneinander abgewogen werden müssen. Die Spannweite kann die Verbesserung des regelmäßigen ÖPNV, ÖPNV auf Abruf, Sammeltaxis, Carsharing, Straßenausbau, automatisierte Shops mit Bank und Postdiensten umfassen. SK bietet hier die Möglichkeit, viele Varianten mit breiter Beteiligung durchzuspielen. Durch Analyse der Widerstandswerte und gegebenenfalls Nachbefragung finden sich vielleicht auch Lösungen, an die im Vorfeld niemand gedacht hat.
In einem Stadtteil soll ein Standort für einen neuen Bolzplatz gefunden werden
Das ist ein Klassiker für vorprogrammierte Konflikte. Der Versuch, eine solche Frage bloß über die üblichen Verfahren – beispielsweise Abstimmung über konkurrierende Gemeinderatsanträge – zu lösen, birgt das Risiko, einen dauerhaften Konflikt zu erzeugen. Eine vorgeschaltete Bürgerbeteiligung, die sich vornimmt, Lösungsvarianten aufzustellen und mit SK herauszufinden, welche Lösung am wenigsten Widerstand erzeugt, eröffnet demgegenüber die Möglichkeit, dass am Ende alle Betroffenen zufrieden sind.
Fazit
Ich finde SK ist ein tolle Methode der Entscheidungsfindung. SK ist sicher nicht für jede Fragestellung geeignet. Im Kontext von Kommunalverwaltungen fallen mir aber sofort viele Fälle ein, die mit SK nachhaltiger gelöst werden könnten als mit Mehrheitsentscheidungen.