
Beginnen wir mit Phantasie: Stellen Sie sich vor, Sie sind eine kleine, unschuldige Maus, die in der Ecke eines großen Konferenzraumes hockt und neugierig die Stuhlreihen voller Menschen sowie die bunte Projektion auf der großen Wand am Kopfende des Raumes neben einem dynamisch gestikulierenden, wichtig aussehenden Redner beäugt. Sie haben zwar als Maus vermutlich keine Ahnung, was da verkündet wird, aber Sie huschen, weil Sie neugierig sind, durch die Stuhlreihen, unter den Füßen der Menschen hindurch, den herrlichen Geruch der Schnittchen im Näschen, die an der Seitenwand auf Tischen bereitstehen. Auf Ihrem Weg, den Sie routiniert unbemerkt zurücklegen, vernehmen Ihre sensiblen Öhrchen viel Getuschel: „Ständig wird hier was Neues angefangen, das macht alles Extraarbeit, aber es wird eh nichts umgesetzt…“, „Wenn die mich mal fragen würden, dann wüssten die, wie man es besser machen kann…“, „Das System muss sich grundsätzlich ändern! Die Politik ist gefordert! Da brauchen WIR doch nicht mit anzufangen, das nützt doch eh nichts!“, „Schon wieder alles umstrukturieren? Wir sind ja mit der letzten Reorganisation noch nicht mal fertig!“, „Ständig sind neue Gesetze, Standards und Anweisungen umzusetzen – man kommt gar nicht mehr hinterher!“. Und wie Sie da so huschen stellen Sie fest, weil Sie eine kluge kleine Maus sind (Neugier ist ja bekanntermaßen ein Zeichen für Intelligenz), dass Sie diese Sätze schon häufiger in diesem Konferenzsaal gehört haben. Sie können also beruhigt Richtung Schnittchen trappeln – für Sie ist die Auftaktveranstaltung zum neuen Change-Projekt keine Bedrohung, sondern eine günstige Gelegenheit, an Leckereien zu kommen.
Ich selber bin zwar keine Maus, höre solche Sätze, mal getuschelt, mal anklagend ausgesprochen, in meiner Tätigkeit als Coach und Organisationsberaterin für öffentliche Verwaltungen aber dennoch seit Jahren immer wieder in Auftaktveranstaltungen, wenn ich meine Kund*innen bei einem Change-Projekt begleite. Die Auftragserteilung für so ein Projekt wird gern mit Krisenszenarien eingeleitet: „Wir rauschen von einer Krise in die andere ausgehend von ständig neuen Anforderungen durch Gesetze oder akute Ereignisse, deswegen brauchen wir mehr Personal oder eine neue Organisationsstruktur.“ Und das erste, was ich dann gewöhnlich tue, ist, festzustellen: „Interessant, wenn die Krise beziehungsweise die Veränderung bei Ihnen Dauerzustand ist, dann ist es ja gar keine Krise, dann ist Veränderung also der alltägliche Normalzustand, das Tagesgeschäft, das es zu handeln gilt.“ Die Antwort ist meist die Erkenntnis: „Stimmt, so habe ich das noch gar nicht gesehen.“
Vor dem Hintergrund der VUKA-Welt sind wir alle seit Jahren mit dem stetigen Wandel konfrontiert, in allen Bereichen unseres Lebens. Dies haben die meisten Führungskräfte und Mitarbeitenden auch dank der Präsenz des Themas in Medien und Trainingswelt rational erfasst, aber häufig noch nicht emotional in ihr Mindset integriert. Nach wie vor sind Change-Projekte an der Tagesordnung, die scheinbar einen Anfang und ein Ende haben und den Organisationsmitgliedern suggerieren, dass wieder Ruhe einkehrt, wenn man nur endlich dieses Projekt umgesetzt hat. Dieses Vorgehen ist paradox und führt meiner Erfahrung nach häufig dazu, dass sich Mitarbeitende von der Führungsebene im wahrsten Sinne des Wortes verschaukelt fühlen – was sich dann beispielsweise in unterschiedlichsten Arten des aktiven oder passiven Widerstands im Arbeitsalltag wie im Change-Projekt oder im schlimmsten Fall in hoher Fluktuation bemerkbar macht.
Das ist sicher und sollte auch den eigenen Leuten nicht verschwiegen werden: Es ist immer alles in Bewegung und auch die neue Struktur bleibt nicht für die Ewigkeit. Notwendige Veränderungen finden immer statt – die Frage ist, auf welchem Weg (vgl. Doppler und Lauterburg, 2014). Change–Projekte bilden nicht die Realität des stetigen Wandels ab.
Sinnvoller wäre es, Organisationsstrukturen zu schaffen, die einen stetigen Wandel unterstützen und gestalten, dem eben nicht als Projekt, sondern als Alltag begegnet und der auch so benannt wird. Es geht also vielmehr um ein Alltagsmanagement. Dafür müssen Strukturen etabliert werden, die den stetigen Wandel gestalten und ihn gelingen lassen.
Klaus Doppler, einer der bedeutendsten Autoren und Praktiker im Bereich des Change Management, schrieb schon 2003 (vgl. Doppler 2003, S.96): „Es wird Zeit, das Prinzip der sich bewegenden Ziele ernst zu nehmen. Wir leben innerhalb turbulenter, instabiler Umwelten – und können nicht erwarten, dass dies keine Auswirkungen hat auf unsere Planungen und Projekte. Statt ein Vorhaben sauber abzuschließen, werden wir lernen müssen, immer häufiger wie bei einem Stafettenlauf mitten im Lauf den Stab an neue Themen zu übergeben– mit dem wesentlichen Unterschied, dass wir vorher weder den Zeitpunkt noch den Ort der Übergabe kennen.“
Doppler (2003) formuliert den Anspruch, dass die Umsetzung in Change Projekten von Anfang an mitgedacht werden muss und sich nicht als letzte Phase, sondern eher als Startpunkt verstehen sollte: Wie schaffe ich Umsetzungsstrukturen für stetige Anpassung von Arbeitsprozessen und Produkten?
Im Fokus steht dabei immer, vom Reagieren zum Agieren zu kommen und die Organisation zu befähigen, aktiv selbst durch den Wandel zu steuern.
Mindestens sollte man also bei der nächsten anstehenden Umstrukturierung die Gelegenheit nutzen, im Organisationssystem die Etablierung von Strukturen anzuregen, die Veränderungsmanagement als ständige Routine im Alltag auf allen Ebenen der Organisation absichern – statt nur den vereinbarten Projektplan nebst Meilensteinen durchzuziehen.
Die logische Konsequenz daraus wäre dann, bezogen auf das einleitend genannte Praxisbeispiel, als Change Managende*r der Führungskraft zunächst einmal die Frage zu stellen, was sich aus der Erkenntnis, dass Veränderung keine Krise, sondern Alltag ist, konkret für die Gestaltung der Kommunikations- und Arbeitsprozesse der jeweiligen Organisationseinheit als Basis für einen gelingenden, nachhaltigen Change ableiten lässt. Die Antwort darauf zu finden, sollte die Basis jedes Change-Projekts sein, denn Strukturen für Veränderungsmanagement müssen in allen Organisationseinheiten Routine werden.
Laut Spitzer (1996) sind Routinen hirnphysiologisch Teil der Mustererkennung im Gehirn,welche uns überhaupt erst handlungsfähig macht. Routinen sparen Energie und „Transaktionskosten“ und geben uns Sicherheit, um Situationen schnell verstehen und angemessen reagieren zu können. Dies hilft, dem stetigen Wandel den Krisencharakter und die damit verbundene Dramatik sowie Adrenalinausschüttung zu nehmen.
Genau diesen Nutzen haben agile Methoden: Sie sorgen für routinierten Umgang mit Veränderungen. Agile Elemente wie Visualisierung von Aufgaben, Herausforderungen und Lösungsideen, die Etablierung von Team-Entscheidung, Retrospektiven, iterativer Planung und Stand Up Meetings können pragmatische und schnell umsetzbare Routinen für die Gestaltung des stetigen Wandels sein (vgl. Bahlow und Kullmann, 2018).
Der agile Ansatz, basierend auf strukturierter Kommunikation, Reflexion und Feedback, integriert aus systemischer Sicht wichtige Komponenten, um autopoietische Systeme stetig zu irritieren sowie anzuregen und damit laufend Veränderungs- und Anpassungsprozesse zu ermöglichen.
So kann es gelingen, dass sich ständige Anpassung nicht mehr wie „Dauerkrise“ anfühlt.
Beispiel: „7 Tage vor und zurück“
Ein erster Schritt aktiver Gestaltung des stetigen Wandels im Team
Der erste Schritt für das eigene Team sollte einfach sein: Mäuschenschritte sind angesagt, wie z.B. mit dieser von mir gern genutzten Methode.
***** • Pro Team-Sitzung oder Leitungsrunde ein fester TOP
***** Bitte schreiben Sie pro Frage maximal 5 Post-Its in 5 Minuten:
********* • Was lief seit der letzten Sitzung gut in der Zusammenarbeit?
********* • Was soll bis zur nächsten Sitzung anders laufen?
***** (Wichtig: Nicht fragen, was schlecht lief, dies kann ich nämlich nicht mehr
***** verändern, nur damit schlechte Laune verbreiten).
Das Ganze noch per Post-It- Abfrage visualisiert, sichert ab, dass alle sich beteiligen, man in 5 Minuten alle wesentlichen Punkte an der Wand hat und sich dann auf ein bis drei priorisierte To-Do’s bis zum nächsten Termin einigt.
Literaturverzeichnis
- Bahlow, Jörg; Kullmann, Gerhard (2018): Agile Teams: Neue Herausforderungen fokussiert meistern. Göttingen: Business Village.
- Doppler, Klaus (2003): ProjektManagement als ChangeManagement: ein neues mentales Modell, erschienen in: OrganisationsEntwicklung 03_2003, S.95 ff.
- Doppler, Klaus; Lauterburg, Christoph (2014): Change Management: Den Unternehmenswandel gestalten, campus verlag.
- Felfe, J. (2006): Transformationale und charismatische Führung – Stand der Forschung und aktuelle Entwicklungen. In: Zeitschrift für Personalpsychologie, Jg. 5, H. 4, 2006, S. 163–176, S. 165.
- Hofert, Svenja (2018): Agiler führen. Wiesbaden: Springer Gabler Verlag.
- Kahnemann, Daniel (2012): Schnelles Denken, langsames Denken. München: Siedler Verlag.
- Spitzer, Manfred (1996): Geist im Netz: Modelle für Lernen, Denken und Handeln, Spektrum Verlag.