Des Verwaltungspudels Kern – oder: wo (überall) ist ein Hund begraben?

Folgende Geschichte ist mir begegnet. Es klingt ein bisschen wie eine Episode aus einer Sitcom: Sie will einen nicht-deutschen Mann heiraten und so verlangt das deutsche Standesamt ein Ehefähigkeitszeugnis vom Zukünftigen. Das bekäme sie, beziehungsweise er beim für ihn zuständigen Konsulat seines Herkunftslandes. Zwar fand sie, die Ehefähigkeit ihres Auserwählten würde sie eigentlich gern persönlich selbst feststellen, aber gut. Also Fahrt zum nächstgelegenen Konsulat zur Bestellung des Ehefähigkeitszeugnisses (dafür braucht es einen Ferientag wegen der Entfernung und der Öffnungszeiten) und einen dreistelligen Eurobetrag. Tatsächlich kam nach wenigen Wochen das bestellte Ehefähigkeitszeugnis.

Zurück sogleich zum Standesamt. Dort bekamen beide die Auskunft, dass ein im Inland (also beim Konsulat in Deutschland, deshalb Inland) ausgestelltes Ehefähigkeitszeugnis kein Ehefähigkeitszeugnis sei.
Was also sei nun zu tun, fragte man die amtliche Autoritätsperson.
Kein Problem, erwiderte diese, es sei ganz unproblematisch.
Nun könne man bei zuständiger Stelle in Karlsruhe auf Basis des erhaltenen Ehefähigkeitszeugnisses, das zwar gar kein Ehefähigkeitszeugnis sei, die Befreiung von der Pflicht zum Ehefähigkeitszeugnis beantragen und weil ja ein Ehefähigkeitszeugnis vorläge, das zwar keines ist, würde aber dennoch dem Antrag auf Befreiung deshalb quasi automatisch zugestimmt. Koste halt noch einmal vier Wochen Wartezeit – und einen dreistelligen Eurobetrag.
Und genau so kam es …

Also: Ein langer, verschlungener Prozess, der den ureigenen Verfahrenskonformitätsbedürfnissen der Verwaltung dient, alle Beteiligten Aufwand und Zeit kostet und wenig echte Effekte oder Zusatznutzen bietet (zumindest spätestens ab der Etappe des ersten erhaltenen Formulars seitens des Konsulates nicht mehr).

Es soll hier nicht um Behördenbashing gehen.

Sondern um Fragen wie:

– Warum passieren solche Dinge?
– Warum sind so viele direkte Kontakte mit Behörden für viele Menschen unbefriedigend?

Hier einige Gedanken, Thesen, Fragen:

Gute Verwaltung spürt man nicht.
Die gut funktionierenden Taten und Effekte fallen meist nicht auf. Eben weil alles normal ist, der Müll regelmässig geholt wird und das kommunale Alltagsleben rund läuft. Erst, wenn etwas nicht funktioniert, denkt mensch über die Verwaltung nach und was sie gerade nicht recht tut. Das prägt eine Wahrnehmung von Verwaltung, die nicht wirklich rosig und nicht nur adäquat ist. Und ist dem Verhältnis zwischen Verwaltung und dem Rest der Welt nicht wirklich zuträglich.

Ab wo ist der Sinn und Zweck des Verwaltungshandelns Selbstzweck von Verwaltungshandeln?
Welche Haltung macht, dass solche sitcomverdächtige, in sich geschlossene Universen und Logikschlaufen in Verwaltungen entstehen?

„Die Mannigfaltigkeit, in der sich einzelne Verrichtungen der Verwaltung ausfächern, spottet der einheitlichen Formel“ /Anmerkung 1/, heisst es in einem altehrwürdigen Lehrbuch des Verwaltungsrechts von Ernst Forsthoff.

Anders gefragt:
Was wollen wir / will ich eigentlich mit dieser Regel oder jenem Vorgehen
– sicherstellen (Stabilität, Verbindlichkeit, Rechtstreue, Verlässlichkeit?),
– ermöglichen (Gemeinwohl, Ausgewogenheit, Sicherheit?),
– verhindern (Willkür, Bevorzugung, Ausnutzung des Systems?)
– oder gar erreichen (…) ?
Was sind die Ziele, Gedanken und Entstehungsgeschichten hinter dem Erlasstext?
Was haben wir / habe ich getan, um den Sinn hinter der Richtlinie/ dem Gesetz zu erfüllen? Oder haben wir / habe ich „nur“ abgehakt, was irgendein Standard oder eine Struktur vor x Jahren einmal festgelegt hat, damit ich mich nicht angreifbar mache?

Es sind diese Fragen eher selten Teil des praktischen produktiven Arbeitsalltags in Verwaltungen – auf allen Stufen, viel zu selten.
Und wenn sie gestellt werden, wird das oft nicht geschätzt, sondern müssen auf Geheiss („von oben“) weiter Reglemente und Dienstanweisungen standardmässig abgearbeitet werden. Schon wegen des Risikos. Sie kennen das.

Kulturflurschaden.

Ich kenne viele Menschen, die in der Verwaltung arbeiten, weil sie mehr wollen als mit ihrer Arbeitskraft den Umsatz und Profit eines Unternehmens zu mehren. Die etwas gesellschaftlich Sinnhaftes leisten möchten, und das geht nicht nur in Sozialberufen.
Und nach einiger Zeit höre ich dann von den gleichen Menschen solche Aussagen:

«Selbst wenn unsere Prozesse sichtlich nicht wirklich dem entsprechen, was gerade anliegt: Wir halten uns da dran.
Weil die uns die Sicherheit und die Rechtfertigung geben, 
dass sicher wir sicher nichts falsch gemacht haben.
Denn wir haben uns ja an Fachstandards und Vorgaben gehalten. Und wenn’s nicht gut kommt?
Uns kann man wenigstens nichts vorwerfen… .»

Die Sicherheit, dass sicher wir sicher nichts falsch gemacht haben. Dreimal ‘Sicher’ in einem Satz… .

Wenn das die prägende Kultur ist, was heisst das dann für

  • Produktqualität?
  • Bürgernähe?
  • Innovationsfähigkeit (ok ok, manche sagen, eine Verwaltung müsse nicht innovieren, also Friedensangebot:) Innovations-anpassungs-fähigkeit?
  • die Ausschöpfung von Potentialen?
  • und vor allem die Leistung von Führung?

Eine – zugegebenermassen provokante – Hypothese dazu ist folgende:

Formulierte, orientierungstaugliche und anwendungsnützliche übergeordnete Ziele und handlungsleitende Prinzipien als Leitplanke fehlen in der alltäglichen Arbeitspraxis der meisten Verwaltungen auf allen Stufen.

Selbst wenn irgendwo ein verstaubtes oder sogar hochglanziges Plakat mit dem Leitbild noch irgendwo hängt. Orientierungstauglich, anwendungsnützlich, handlungsleitend, Leitplanke und Arbeitspraxis sind hier die Zielbegriffe.
In den letzten Jahrzehnten wurde die Verwaltung auf Effizienz, Standards, Nachweis und Rechtfertigung der Nutzung von Mitteln getrimmt, viel mehr als auf Sinnhaftigkeit und Situationsadäquatheit. Auf dem Altar genormter und abgesicherter Standardprozesse wurden viele Handlungsmargen, Rechtsauslegungsräume, Lösungsorientierung und Werteausführung geopfert. Und im Zuge der derzeitigen Automatisierungsbestrebungen, die vielerorts unter dem verschönten Titel ‚Digitalisierung‘ laufen, weil nach der Digitalisierung ja alle schreien, droht sich die Problematik zu verschärfen. Weil sie oft die situative Unverantwortlichkeit absichert, weil es ja „der Algorithmus“ ist, der meine Entscheidung als zuständige Person vorschreibt. Digitalisierung, soviel sei hier auch noch gesagt, könnte und sollte viel mehr und anderes sein als nivellierende Standardisierung…

Zentrale Aufgabe der Verwaltung ist formalisiertes Tun zur Umsetzung und zum Schutz von politischen Entscheiden.

Auf der umsetzenden, operativen Anwendungs- und Ausführungsebene.
Der Staatsrechtler Lorenz von Stein formulierte das so:

«Verwaltung ist tätig werdende Verfassung.»

Nicht Gesetz, nicht Erlass, nicht Dienstanweisung oder Reglement. Nicht Standard. Sondern tätig werdende Verfassung.

Muss nicht eine Verfassung Auslegungsbandbreite haben und auf kollektiven Werten beruhen?

Letzte These für heute:
Dem gerecht zu werden und zu bleiben ist und bleibt eine anspruchsvolle Aufgabe der Verwaltung. Und eine sinnhafte…
Für jede und jeden Einzelnen von uns. Immer wieder.


Anmerkung

/1/ https://www.zeit.de/1987/13/eine-aufschlussreiche-lektuere

Autor: Veronika Lévesque

Veronika Lévesque ist beim Institut für Arbeitsforschung und Organistionberatung iafob in Zürich (CH) Organisationsentwicklerin. Und Projektmensch mit einer Vorliebe für Fragen, für die es noch keine fertige Antwort gibt. Begeisterte Grenzgängerin: Unterwegs in 4 Ländern, 3 Sprachen und am liebsten in den Zwischenräumen zwischen Disziplinen. Schwerpunkte: Nutzbarmachung von Übergängen und Transformationshebammerei, Organisations- und Entwicklungshandwerk (Manufaktur, nicht von der Stange), Agile Spielfelder in nicht-agilen Umwelten, Methodenentwicklung, Umgang mit Nicht-Planbarem, Bildungssysteme vs. nicht-formale Bildungswege und 'Fehler machen schlauer.’

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