„Agiles Steuerungsmodell“: Die Besonderheiten des „Systems Verwaltung“

In den USA ist Präsident Joe Biden gerade dabei, dem Land eine gigantische Kehrtwende zu verordnen. /Anmerkung 1/ Mit zwei großen Wirtschaftspaketen in Höhe von mehreren Billionen Dollar will er u.a. die marode Infrastruktur des Landes zukunftsfähig machen. Nicht die Riesensummen sind so spektakulär. Sondern es ist die Neuausrichtung der Staatsziele: wieder hin zu einer aktiven Rolle des Staates und Abschied von der unter Ronald Reagan begonnenen, oft als „neoliberal“ bezeichneten und reaktiv-defensiv orientierten Staatszielvision.
Vieles spricht dafür, dass ohne eine vergleichbare Neujustierung auch Deutschland auf keinen Zukunftspfad kommen kann. Ein mögliches „agiles Steuerungsmodell“ /Anmerkung 2/ geht Hand in Hand mit neuen Zielvisionen. Das wiederum hat zur Voraussetzung, dass wir uns mit einigen allgemein anerkannten Urteilen über die Funktion der öffentlichen Verwaltung beschäftigen. Damit wollen wir hier anfangen. Wir wollen einen Blick auf das sogenannte Neue Steuerungsmodell werfen, das seit 30 Jahren die Ausrichtung insbesondere auf kommunaler Ebene in Deutschland bestimmt.

Warum ein Rückblick?

Das Neue Steuerungsmodell wurde Anfang der 1990er Jahre von der Bertelsmann-Stiftung und der KGSt entworfen. Damit sollten die Visionen eines „schlanken Staates“, die unter Reagan und Thatcher in der angelsächsischen Welt Furore machten, in die deutsche kommunale Verwaltungslandschaft transportiert werden. /Anmerkung 3/ Es verbreitete sich schnell und wurde zum führenden Paradigma deutscher kommunaler Politik. Mittlerweile ist sehr umstritten, ob es im wesentlichen erfolgreich eingeführt werden konnte oder ob es eher als gescheitert zu betrachten sei.
Diese Frage wollen wir hier nicht untersuchen. Aus unserer Sicht ist es unbestritten, dass das Neue Steuerungsmodell einen grundlegenden gedanklichen Wandel bewirkt hat. Und die Wirkung dieser Gedankenwelt auf die kommunalen Akteure – uns – ist es, was uns hier interessiert.

Paradigma Nummer eins: Kommunen wollen immer mehr

Das NSM stellte an den Anfang seiner Überlegungen die These, dass Kommunen („Bürokratien“) aus ihrem Wesen heraus zu Expansion, zum Verbrauch immer weiterer gesellschaftlicher Ressourcen streben. „Nach aller Erfahrung fördert nichts die eigene Karriere so zuverlässig wie eine steigende Zahl von Mitarbeitern und ein wachsender Etat.“ Deshalb strebten Amtsleiter nach immer höheren Budgets und dies stelle einen wesentlichen Faktor steigender Staatsausgaben dar. /Anmerkung 4/

Die Verfasser des NSM agieren auffallend oft mit forschen Behauptungen. Differenziertes Abwägen von Argumenten ist ihre Sache nicht. Es gibt nämlich durchaus andere volkswirtschaftliche Theorien, die begründen wollen, warum der Anteil öffentlicher Ausgaben (incl. Sozialversicherungen) am BIP tendenziell steigt. In der industriellen Produktion wird bekanntlich ständig rationalisiert. Die Produktivität steigt stetig an. Im Dienstleistungssektor hingegen (und ein großer Teil der öffentlichen Leistungen sind DL) unterliegt eine solche Rationalisierung engeren Grenzen. Ärztliche Behandlungen, Beratungsleistungen den Bürgern gegenüber, Pflege, Vermittlung von Bildung lassen sich in der Regel nicht so einfach beschleunigen. Solche Leistungen steigen relativ zu den materiellen Gütern im Preis. Und beanspruchen damit quasi automatisch einen größeren Anteil an der Gesamtwertschöpfung eines Landes.
Die Erfinder des NSM gehen auf diese konkurrierenden Theorien nicht ein. Wenn es nämlich für die Tendenz eines wachsenden Staatsanteils am BIP ausschließlich subjektive Gründe egoistischer Führungskräfte gibt, dann tut es auch den Anspruchsberechtigten der Kommunen nicht weh, wenn man dieses Wachstum blockiert.

Paradigma Nummer zwei: von der Wirtschaft lernen, heißt siegen lernen

Aus herkömmlichen Kommunalverwaltungen sollten – so das NSM 1993 – „Dienstleistungsunternehmen“ werden. Damit werde zwar ihre Verantwortung für „spezifisch öffentliche, gemeinwohlorientierter Ziele“ nicht geschmälert. Aber dennoch: „Für eine Kommune, die ihre öffentliche und daseinsvorsorgende Aufgabe im Auge behält, kann der Blick auf den privaten Sektor jedoch sehr lohnend sein.“ /Anmerkung 5/
Insbesondere das Kostenbewusstsein privatwirtschaftlicher Unternehmen ist den NSM-Verfassern ein Vorbild. Aber stimmt das denn? Sind gewinnorientierte Unternehmen per se effizienter als öffentliche Einrichtungen?

Ein Blick auf andere Sektoren kann lohnend sein. Beim Versuch, deren Methoden zu kopieren, kann man aber auch über das Ziel hinausschießen. (Bildquelle: Evelyn de Bruin auf Pixabay)

Privatfirmen verfolgen eine Strategie der Kostensenkung. Das ist nicht ihrem freien Willen bzw. dem ihrer obersten Führungskräfte unterworfen, sondern Ergebnis des Wettbewerbsdrucks. Kostensenkung ist aber nicht gleich „Sparsamkeit“ (Bild der „schwäbischen Hausfrau“). Sondern Kostensenkung zielt auf strengste Ökonomisierung bezahlter Ressourcen bei verschwenderischster Nutzung unbezahlter Ressourcen. Wenn ein Unternehmen auf kostenlose Ressourcen z. B. aus der Umwelt zugreifen kann (Luft, Wasser, Urwälder, Bodenschätze usw.), wird es dies im maximalen Umfang tun – soweit es seine Gewinninteressen erfordern. Dies gilt auch für unbezahlte Ressourcen der Mitarbeiter wie Kreativität, Engagement usw. – alles Dinge, die das Unternehmen nicht mit Geld kaufen kann.

Wenn man also der öffentlichen Verwaltung „wirtschaftliches Denken“ im privatwirtschaftlichen Sinne empfiehlt, so zeigt sich darin eine ganz grundsätzliche Verkennung der Besonderheit öffentlichen Handelns und der damit verbundenen Möglichkeitsräume. Gerhard Wohland hat den Unterschied zwischen Marktsystem und Verwaltungssystem einmal folgendermaßen auf den Punkt gebracht:

Mit dem Markt kann niemand reden, den Markt kann man von keinem Argument überzeugen. Mit einem Minister oder einem Bürgermeister geht das schon.

Gerhard Wohland

Das Medium des Marktes ist der anonyme Wettbewerb, der nur durch aktiven Eintritt in das Konkurrenzspiel getestet werden kann. Das Medium des Staates und der Verwaltung hingegen ist der kommunikative Dialog mit Bürger:innen und Vertreter:innen der Gesamtgesellschaft. Empfiehlt man der Verwaltung vor allem den Eintritt in den Wettbewerb, beraubt man sie ihrer wesentlichsten Potenziale.

Ein Beispiel aus der Praxis: In einem Landratsamt in Süddeutschland wurde Mitte der 1990er Jahre geprüft, welche von vier existierenden Kfz-Zulassungsstellen im Kreis geschlossen werden konnten. Unter anderem ging es um eine Außenstelle, die ca. 30 km von der zentralen Zulassungsstelle entfernt war und knapp 25 % der rund 60.000 Kunden jährlich versorgte. Durch die Schließung der Stelle wurde mit Synergieeffekten von einer Personalstelle und Miet- und anderen Fixkosten in Höhe von 20.000 € gerechnet (in heutiger Währung). Zusammen Einsparungen von 64.000 €.
Der Controller des Landratsamtes, übrigens ein begeisterter Anhänger des NSM, machte dennoch eine Gegenrechnung über die volkswirtschaftlichen Kosten auf. Durch die Schließung würde ein zusätzliches Verkehrsaufkommen von rund 800.000 km pro Jahr erzeugt. In damaligen Preisen ca. 160.000 €. Hinzu kämen etwa 15.000 Fahrstunden, die Bürger zusätzlich im Auto verbringen müssen. Bei 15 € Stundenlohn ein Zusatzaufwand von 225.000 €.
Einsparungen im Landratsamt von 64.000 € standen so volkswirtschaftliche Mehrkosten in Höhe von 385.000 € gegenüber. Für ein Wirtschaftsunternehmen keiner Überlegung wert, solange kein Kundenverlust droht. Aber für eine Kreisverwaltung? Sollte sie auch interne Kosten externalisieren? Im Kern stellten diese eine unsichtbare, verdeckte Zusatzsteuer für die Bürger des Landkreises dar. Der Controller empfahl Verzicht auf die Schließung. Natürlich wurde sie trotzdem durchgezogen. Das NSM-Denken hatte sich in den Köpfen verankert.

Eine Kraft…, die auch mal Gutes schafft

Aber es gab auch sehr positive Effekte des NSM. Vor einigen Tagen habe ich mich, in Vorbereitung auf diesen Artikel, mit dem damaligen Leiter der psychologischen Beratungsstellen des Kreises unterhalten. Ich fragte ihn, was denn seine wichtigsten Erinnerungen an die Einführung des neuen Steuerungsmodells seien. Dazu muss man wissen, dass es in diesem Bereich große Schwierigkeiten gab, den Leistungsbegriff des NSM in irgendeiner Weise messbar zu machen. Und ich hatte mit einem Lamento über diese Auseinandersetzungen gerechnet.

Das war dem ehemaligen Kollegen aber gar nicht wichtig. In seiner Erinnerung war ihm vor allem geblieben, dass im Gefolge der neuen Politik „Vergleichsringe“ gebildet wurden zwischen verschiedenen psychologischen Beratungsstelle des Bezirks – gedacht als Wettbewerbssurrogat. Aber diese Vergleichsringe kümmerten sich in der Praxis fast gar nicht um das vorgegebene Ziel der Kostenreduktion, sondern entwickelten sich zu lebendigen Diskussionskreisen über good practices in der Beratung von Eltern und Jugendlichen. Dies sei ein Riesenfortschritt gewesen.

Die Verwaltung hatte sich in diesem Punkt als resilient gegenüber „wirtschaftlichen“ Anmaßungen erwiesen und das entfaltet, worin ihre Stärke besteht: das hartnäckige Festhalten an guter Dienstleistungsqualität für die Anspruchsberechtigten.

Schlussfolgerungen für ein agiles Steuerungsmodell

Aus meiner Sicht ist es noch zu früh, endgültige Schlüsse für die nötige kopernikanische Wende im gesellschaftlichen Verwaltungsverständnis zu ziehen, wie John Biden sie gerade für die USA vorexerziert. Für mich ist bei der Beschäftigung mit dem NSM aber schon jetzt deutlich geworden, dass wir uns mit den Fragen „Wie viel ist unserer Gesellschaft die Verwaltung wert? Und was sind die spezifischen Aufgaben, die sie für uns erledigen soll?“ noch ganz intensiv beschäftigen müssen.

Wer über dieses Thema weiter diskutieren möchte, ist herzlich auf unsere Frühjahrskonferenz am 18. Mai 2021 in @ttlingen eingeladen https://konferenz-agile-verwaltung.org/. Peter Bauer und ich werden dort eine Session zu einem „Agilen Steuerungsmodell“ anbieten.

Anmerkungen

/1/ Biden is “undercutting the exact brand of center-lane neoliberalism that he worked so hard to enshrine, more than four decades ago, as a young senator in the Nixon and Carter years.” (Giovanni Russonello in der New York Times, 30.03.2021)
/2/ Siehe den Artikel zu einem Agilen Steuerungsmodell auf unserem Blog: https://agile-verwaltung.org/2021/01/28/session-des-fav-auf-dem-nextcamp-2/
/3/ Auf unserem FAV-Wissenswiki sind wir gerade dabei, Materialien und Bewertungen zum Neuen Steuerungsmodell zu sammeln (https://agilesverwaltungswissen.org/wiki/Das_Neue_Steuerungsmodell). – Das Diktum vom „schlanken Staat“ – „lean administration“ im Original – hat im übrigen nichts mit der Lean-Philosophie zu tun, die vom Toyota-Weg ausgeht. Es stellt eine Begriffsusurpation dar.
/4/ Kommunale Gemeinschaftsstelle für Verwaltungsvereinfachung (KGSt) (Hrsg.): Das Neue Steuerungsmodell, Bericht Nr. 5/1993, Köln, Seite 9
/5/ das., Seite 14

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

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