Vor einigen Wochen hat
Stefan Kühl, Organisationssoziologe an der Universität Bielefeld, via Twitter auf seinen Artikel „
Wie gehen Leitungen mit Illegalität um?“ aufmerksam gemacht. Er thematisiert darin die alltäglichen Regelverstöße von Mitarbeiter*innen in Hochschulen und betrachtet es unter dem Aspekt der brauchbaren Illegalität, ein Begriff, der auf Niklas Luhmann zurückgeht. Folgender Satz ist mir beim Lesen hängen geblieben: „Letztlich stellt erst die alltäglich praktizierte Illegalität sicher, dass Organisationen überhaupt funktionieren.“ Mein erster Impuls hierauf: Das darf doch so nicht sein!
Brauchbare Illegalität – sinnvoll und paradox
Natürlich kenne auch ich viele Situationen, in denen ich genau diese Praxis erfahre. Und ich bin dankbar dafür, dass Kolleg*innen für mich zwei Augen zudrücken, um mich bei meinem eigenen Vorhaben zu unterstützen. Dennoch: Dieses Phänomen bleibt für mich paradox. Für mich klingt es gerade so, als wäre die Illegalität hinzunehmen, denn ohne sie bekommen wir es nicht hin.
Peter England hat auf meinen Tweet geantwortet: „
Umgekehrt: Würde in komplexen Organisationen alles nach den Regeln laufen, käme es zum Stillstand. Wichtig ist, den Regelbruch nicht zu stigmatisieren, sondern als Signal für eine Innovation zu verstehen.“ Das leuchtet auf jeden Fall ein. Die Optimistin – vielleicht auch Idealistin – in mir bleibt allerdings dabei, dass dies nicht der Zustand sein kann, den wir hinnehmen können. Mir persönlich fehlt die Entwicklungsperspektive.
Graswurzelinitiativen
Kurz nach dem Lesen des Artikels bin ich bei meiner Lektüre des Buches „
Graswurzelinitiativen in Unternehmen: Ohne Auftrag – mit Erfolg“ von
Sabine und Alexander Kluge ebenfalls auf den Aspekt der brauchbaren Illegalität gestoßen. Graswurzelinitiativen entstehen dort, wo es schmerzt. Sie laufen gerade zu Beginn lange unter dem Radar. Eine*r fängt an zu Tanzen /Anmerkung 1/, die ersten folgen, es werden immer mehr, die mittanzen wollen und irgendwann kommt der Punkt, an dem die Initiative von oben wahrgenommen wird. Das Autorenpaar fasst es in folgendem Satz aus meiner Sicht treffend zusammen: „Genau so sind Graswurzelinitiativen gute Indikatoren für die Kultur des Unternehmens, in dem sie wachsen.“ (Kluge, S.179). Denn dort, wo sie wachsen, scheint es Veränderungsbedarf zu geben.
Erfahrungen vom Scheitern
Ob Graswurzelinitiativen erfolgreich sind, hängt gleichwohl von weiteren Faktoren ab, die im Detail im Buch nachzulesen sind. Sie können scheitern, wie ich es bei einem von mir initiierten Lean Coffee erlebe, welches ursprünglich dem abteilungsübergreifenden Ideen- und Informationsaustausch dienen sollte. Stattdessen finden sich dort überwiegend diejenigen, die unzufrieden sind. Man könnte meinen, dadurch kommt Bewegung rein. „Durch die Forschung in Organisationen ist aber bekannt, dass diese Gruppen selten den Schritt machen, von der Beschreibung von Problemen oder Prognosen von Schwierigkeiten wegzukommen und diese stattdessen anzugehen. Die Leistung dieser Gruppen scheint vielmehr darin zu bestehen, allen Dazugehörigen einen Raum zu geben, wo sie unter Gleichgesinnten über die falschen Entscheidungen in der Organisation den Kopf schütteln können.“ (Judith Muster in Kluge, S. 195f). Genau so, wie hier beschrieben, erlebe ich es. Der Austausch scheint damit durchaus einen Zweck zu erfüllen – allerdings nicht den, den ich mir gewünscht hätte.
Mut, dranzubleiben
Und sie können gleichzeitig Mut machen, dran zu bleiben, wie ich an dem bei uns noch winzigem Keimling „
Working out loud“ erlebe. In meinem ersten WOL-Circle habe ich mich damit auseinandergesetzt,
inwiefern Working out loud etwas für unsere Hochschule sein könnte und habe einigen Kolleg*innen davon berichtet. Aktuell nehme ich mit vier Kolleginnen an meinem zweiten WOL-Circle teil und ich denke, ich kann hier für uns fünf sprechen: Wer erleben die Vernetzung und die Inspiration, die wir uns bereits in den ersten Wochen geben konnten als ungemein bereichernd. Wenn jede von uns nur eine*n weitere*n Tänzer*in mitzieht, dann könnte da etwas wachsen.
„Stabile Wurzel schlägt große Grasfläche“
Spannend in dem Zusammenhang finde ich noch einen weiteren Aspekt, den Judith Muster in ihrer abschließenden organisationssoziologischen Einschätzung zu Graswurzelinitiativen anspricht: „Stabile Wurzel schlägt große Grasfläche“. (a.a.O., S. 196). Nicht das möglichst weit verzweigte Netzwerk ist dasjenige, welches eine Graswurzelinitiative zum Erfolg verhilft, sondern das strategisch passende Netzwerk. Es gilt also, die richtigen Mittänzer*innen zu finden.
Was genau fasziniert mich an Graswurzelinitiativen?
Ich denke, für mich sind es unterschiedliche Aspekte. Als Führungskraft auf einer eher unteren Führungsebene sehe ich mich durchaus in der Lage, selbst entsprechende Initiativen zu starten und Mittänzer*innen zu suchen. Gleichzeitig kann ich, wenn ich Graswurzelinitiativen in meinem Umfeld erkenne, diesen ein klein wenig Licht und Dünger von oben bieten – zumindest das, was in meinem Ermessensspielraum liegt. Für den Transformationsprozess spielen sie eine wichtige Rolle, da sie uns zeigen, wo es hakt.
Meine Vision: Eine lebendige Hochschulkultur
Und gleichzeitig wünsche ich mir, dass wir eines Tages auf Graswurzelinitiativen, auf brauchbare Illegalität, zurückblicken und feststellen, dass es sie nicht mehr braucht. Stattdessen haben wir eine Hochschulkultur geschaffen, die in ihrer Gesamtheit lebendig ist, „fast wie die Graswurzel selbst; und dort ist eine Bewegung aus der Mitte immer sofort sichtbarer und spürbarer Teil der Organisation ohne Umwege über Taktiken, Trojanische Pferde oder brauchbarer Illegalität.“ (a.a.O., S. 180).
Narrative gesucht
Wie wir da hinkommen, kann ich aktuell nicht beantworten. Gedanken, die mich diesbezüglich beschäftigen, haben mit dem Erfordernis von neuen Narrativen zu tun. Damit meine ich Beispiele, an denen wir uns orientieren können und die uns den Mut geben, ähnliche Wege einzuschlagen. Vielleicht bietet die
Hochschule für agile Bildung hier einen Ansatzpunkt, den ich mir gern noch genauer anschauen möchte. Weitere kleinere Bespiele haben wir darüber hinaus im Blog der Musterwandler bereits zusammengetragen. Und auch das
Forum Agile Verwaltung (FAV) bietet weitere Inspiration aus dem öffentlichen Bereich, wie beispielsweise die Vorstellung des
Start-up Bauhofs der Stadt Herrenberg, welches mich auf der Herbsttagung sehr begeistert hat.
Dieser Beitrag wurde zuerst auf der Seite https://musterwandler-hochschulen.org veröffentlicht
Anmerkung
[1] Das Bild geht auf folgenden Ted-Talk zurück: „How to start a movement“ von Derk Sivers,
https://www.ted.com/talks/derek_sivers_how_to_start_a_movementGefällt mir:
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Ähnliche Beiträge
Letztlich stellt erst die alltäglich praktizierte Illegalität
sicher, dass Organisationen überhaupt funktionieren.
― Niklas Luhmann
Das muß nicht unbedingt schon etwas mit Gesetzesbruch zu
tun haben, das können auch kleinere Ausreißer sein; aber ja.
Warum?
Weil wir die Ordnung eines von Menschen erdachten
Systems ohne jeden Fehler, letztlich an die Wand fahren.
Die Natur ist, dank ihres immanent waltenden Geistes,
permanent in der Lage, die (in den Augen von uns Menschen)
kompliziertesten Systeme zeitgleich fehlerfrei zu steuern.
Wir Menschen haben diese umfassende Weit- und
Rundumsicht nicht. Jedenfalls nicht via Verstand.
Für solche Komplexität ist unser, meist linear
funktionierendes Denken nicht ausgelegt.
Unsere Formen von Ordnung sind starr und leblos, tot.
🍁🍂
„Würde in komplexen Organisationen alles nach den Regeln laufen,
käme es zum Stillstand. Wichtig ist, den Regelbruch nicht zu
stigmatisieren, sondern als Signal für eine Innovation zu verstehen.“
― Peter England
Kluger Satz ― seinem Sinn nach regelwidrig ― aber wahr.
Jeder Ordnung ist für
sich allein kalt und herzlos.
So dient sie nur sich selbst.
Doch ist keine Ordnung als solche Selbstzweck. Sinn
und Ziel jeder von Menschen erdachten Ordnung ist
ihr Dienst FÜR den Menschen und nicht GEGEN ihn.
🍁🍂
Nicole Engelhardt: „Mir persönlich fehlt die Entwicklungsperspektive.“
Es handelt sich hier vorläufig um ein Dilemma:
Die Ordnung an sich schließt Fehler per se aus.
Denn mit der Installation von Ordnung sollen
Laissez-faire und Chaos ja verhindert werden.
🍁🍂
Nicole Engelhardt: „Wie wir da hinkommen, kann ich aktuell nicht beantworten.“
Kann ich auch nicht. Erst recht nicht „generell“.
Dort, wo es möglich ist, könnten kleinere Einheiten (mit
Entscheidungshoheit) erste Antworten sein. (Beispiel: Schulen)
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