Wir freuen uns sehr, einer Auswahl von Blogartikeln aus dem Musterwandler-Blog, der nicht mehr fortgeführt wird, hier im Forum Agile Verwaltung ein neues Zuhause bieten zu können. Wir wünschen euch eine spannende Lektüre.
Beim vorliegenden Beitrag handelt es sich um eine modifizierte und übersetzte Version des Konferenzbeitrages: Bils, Annabell (2018). Probing, Sensing, Responding – How to implement digital learning innovations by using the Cynefin framework. In Proceedings of EdMedia: World Conference on Educational Media and Technology (pp. 2010-2015). Amsterdam, Netherlands: Association for the Advancement of Computing in Education (AACE). https://www.learntechlib.org/primary/p/184441/.
Wenn an einer Institution, beispielsweise einer Hochschule, Innovationen eingeführt werden sollen, ist dies ein schwieriges Unterfangen. Nicht nur, dass der Prozess oftmals Einfluss auf die verschiedenen Bereiche innerhalb der Institution, wie z.B. Lehre, Forschung und Verwaltung, hat – die Bereiche sind in der Regel auch miteinander verbunden. Den Prozess der Implementation zu planen und zu koordinieren, kann daher verwirrend sein. Um die Fäden ein wenig zu entwirren, kann es sich lohnen, die Systemebene zu betrachten. Ein Framework dafür bietet Cynefin.
Bereits im Jahr 2007 veröffentlichten Dave Snowden und Mary E. Boone ein Modell für Führungskräfte , das dabei helfen soll, Entscheidungen zu treffen – und zwar im besten Fall solche, die den Rahmenbedingungen der Institution entsprechen (Snowden & Boone 2007). Snowden nannte dieses Framework Cynefin, ein walisisches Wort für „Heimat“ oder „Habitat“ – und meinte damit genau das: einen Ort, von welchem aus man die unterschiedlichen Wahrnehmungen betrachten kann. Führungskräfte sollen dadurch erkennen, dass verschiedene Kontexte unterschiedliche Handlungsweisen erfordern (ebd.). Das Cynefin-Framework definiert Kontexte als einfach („simple”, „obvious“), kompliziert („complicated“), komplex („complex“) und chaotisch („chaotic“).
Abbildung 1: Snowden: Das Cynefin Framework. Quelle
- In einfachen Kontexten ist der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung offensichtlich. Es gibt klar definierte Möglichkeiten, mit einem Problem umzugehen, Überraschungen gibt es eigentlich keine, die Handlungsstrategien entsprechen der vorgegebenen Praxis (Kurtz & Snowden, 2003, S.468). Das bedeutet, dass bewährte Verfahren angewendet werden können. Die Schritte in der Entscheidungsfindung sind wahrnehmen – kategorisieren – antworten (Snowden & Boone 2007). Ein Beispiel sind Mitarbeiter*innen in einem Helpdesk: Die Anfragen ähneln sich und es gibt daher in der Regel ein bewährtes Set an Antworten. Nach Snowden und Boone ist der einfache Kontext der einzige, in dem Best Practice funktioniert: Man verfährt eben auf die übliche Weise.
- In komplizierten Kontexten gibt es ebenfalls einen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung, jedoch ist dieser nicht offensichtlich, sondern kann erst nach einer entsprechenden Analyse erkannt werden. Daher ist in diesen Kontext Expert*innenwissen erforderlich, bevor eine Entscheidung getroffen werden kann. Mehr oder weniger alles, das durch externe Beratung gelöst werden kann, ist ein Beispiel für komplizierte Kontexte, z.B. eine Software in eine bestimmte Sprache zu übersetzen. Meist gibt es verschiedene Möglichkeiten, zum Ziel zu gelangen und auch mehr als eine richtige Lösung, aber es geht nicht ohne Hilfe. In komplizierten Kontexten müssen Informationen erfasst und analysiert warden. “This is the domain in which entrained patterns are at their most dangerous, as a simple error in an assumption can lead to a false conclusion that is difficult to isolate and may not be seen” (ibid., p. 468f.). Die Schritte in der Entscheidungsfindung sind wahrnehmen – analysieren – reagieren (Snowden & Boone 2007).
- Einen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung gibt es letztlich auch in komplexen Kontexten, dieser ist allerdings erst aus der Retrospektive ersichtlich. Es kann erst nach dem Prozess beurteilt werden, ob eine Entscheidung richtig oder falsch war. Die Ergebnisse von Handlungen zu planen, ist nicht möglich, Unsicherheiten sind an der Tagesordnung, da keine Vorhersagen über Erfolge getroffen werden können. Dazu kommt, dass die Elemente innerhalb des komplexen Systems auch wieder einfach, kompliziert, komplex oder sogar chaotisch sein können oder miteinander interagieren. Die Lösung des Problems wird erst sichtbar, wenn sie gefunden worden ist.
Maßnahmen in komplexen Kontexten erfordern neue Praktiken und Experimente, obwohl das Risiko besteht, dass diese scheitern können. “Instead of attempting to impose a course of action, leaders must patiently allow the path forward to reveal itself” (Snowden & Boone 2007, S.74). Da die Ergebnisse nicht vorhergesagt werden können, ist ein adaptives Denken erforderlich (Gorzeń-Mitka & Okręglicka, 2014, S. 407). Die Schritte in der Entscheidungsfindung sind ausprobieren – wahrnehmen – antworten (Snowden & Boone 2007). Beispiele dafür sind die meisten Arten von Innovationen. Durch das Ausprobieren verschiedener Ansätze, Ideen oder auch Protoypen wird sich langsam an die Lösung herangetastet. Das Ziel besteht nicht nur im Finden einer Lösung, sondern auch darin, die Probleme oder Teile davon wieder so herunterzubrechen, dass sie handhabbar sind, also vielleicht bestenfalls kompliziert - In chaotischen Kontexten gibt es gar keinen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung oder zumindest ist es unmöglich, diesen herauszufinden. Es gibt weder Muster noch Strukturen. Snowden & Boone nennen die Ereignisse des 11. September 2001 als ein Beispiel für diese Kategorie (vgl. ebd.). Das System ist unter absolutem Druck, so dass keine Zeit bleibt, zunächst eine Analyse voranzustellen. In chaotischen Kontexten ist Aktion für Entscheidungsträger*innen am wichtigsten, denn so können Strukturen aufgebaut werden, um das System vom Chaos in die Komplexität zu überführen (vgl. Snowden & Boone 2007, S. 74). Das heißt, es muss Krisenmanagement betrieben werden (Gorzeń- Mitka & Okręglicka, 2014, S. 408). Die Schritte in der Entscheidungsfindung sind handeln – wahrnehmen – antworten (Snowden & Boone 2007).
- Letzlich gibt es auch einen fünften Kontext, der als Unordnung (disorder) bezeichnet wird. Dieser liegt in der Abbildung genau in der Mitte der Kontexte. Unordnung besagt, dass der Zustand des Systems (noch) unklar ist, so dass es nicht möglich ist, es einem der vier anderen Kontexte zuzuordnen. Um diesen Zustand zu steuern, ist es notwendig, ihn in die einzelnen Bestandteile zu unterteilen und nicht einfach einem Kontext (oft dem einfachen) zuzuordnen (vgl. ebd.).
Kurtz & Snowden (2003) betrachten Cynefin als einen Rahmen zur Entscheidungsfindung. Das Framework basiert nicht auf empirischen Überprüfungen, sondern zeigt Optionen auf, mit denen Entscheidungsträger*innen umgehen können. Auch wird eine Überprüfung der eigenen Denkweise bei spezifischen Problemen ermöglicht (Kurtz & Snowden, 2003, S.468). Cynefin ist daher eine Methode zur Diagnose und Selbstbewertung, aber auch eine Möglichkeit, mit Komplexität umzugehen.
Übertragen des Modells
Bei der Umsetzung von Innovationen muss ein Konzept m.E. auf einer systemischen Ebene betrachtet werden, um Handlungsentscheidungen abzuleiten, die für den Kontext der Institution relevant sind. Die meisten Bildungsinstitutionen können als komplex bezeichnet werden: “Some major change—a bad quarter, a shift in management, a merger or acquisition—introduces unpredictability and flux” (Snowden & Boone 2007, S. 74). Da Experimente und neu entstehende Praktiken in diesem (komplexen) Kontext die entscheidenden Handlungsstrategien sind, funktionieren auch Best Practice-Ansätze nicht – diese sind ja Strategien in einfachen Kontexten, in denen ein klarer Zusammenhang von Ursache und Wirkung besteht. Darüber hinaus klappt das, was in Situation (oder Institution) A gut klappt, nicht unbedingt auch in Situation B. Ein Effekt, der in einer Situation, einem Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt zuverlässig nachweisbar ist, kann unter anderen Bedingungen auftreten oder auch nicht (vgl. Preußler, Kerres, Michael & Schiefner- Rohs, 2014, S. 260).
Einer der größten Fehler, den Institutionen begehen können, ist das Übertragen von Handlungsstrategien, die in einfachen oder komplizierten Kontexten funktionieren, auf komplexe Kontexte. Ein Beispiel: Es soll eine neue Idee eingeführt werden, beispielsweise ein MOOC. Von anderen Institutionen liegen etliche begeisterte Erfahrungsberichte vor und wir haben uns damit natürlich vertraut gemacht, so dass ansteht, das Konzept in unsere Einrichtung zu transferieren. Wenn wir das nach dem Best-Practice-Prinzip machen und alles 1:1 übertragen, unterstellen wir damit, uns in einem einfachen Kontext zu befinden – wo wir aber sehr wahrscheinlich nicht sind. Die Prozesse an beispielsweise einer Hochschule bauen auf verschiedenen, miteinander interagierenden Elementen auf und durch den rasanten Wandel innerhalb des Systems können eigentlich auch keine Vorhersagen getroffen werden. Es ist komplex. Wenn das Konzept daher scheitert, suchen viele Institutionen das Problem bei sich selbst („ich muss prominentere Referent*innen einladen, meine Übertragungsrate verbessern, öfter live sein“ usw.), d.h. es wird sich an Ursache und Wirkung abgearbeitet. Aber wenn der Kontext systemisch nicht passt (vielleicht weil die Studierenden zu divers sind), helfen solchen einfachen Verbesserungen eben nicht. Wenn also Innovationen in einem komplexen Kontext umgesetzt werden sollen, müssen Aktionen wie experimentieren, reflektieren, lernen oder anpassen ermöglicht werden.
Ich stelle mich hiermit auch nicht grundsätzlich gegen Best Practice, ich denke nur, man sollte sich dessen bewusst sein und vor allem weder Situationen noch Prozesse unterschätzen. Cynefin sagt letztlich: Auch mit den besten Erfahrungen von anderen kann ich mein Problem nicht lösen, wenn ich es nicht kontextualisiere und ausprobiere, ob es auch wirklich zu meinen Rahmenbedingungen passt.
Beachten Sie am Ende auch die kleine Überlagerung zwischen dem einfachen und dem chaotischen Kontext in der Abbildung. Es ist leicht, von einem perfekt kontrollierten Zustand in ein absolutes Chaos zu stürzen, wenn man ausschließlich beim Bewährten bleibt.
Literatur
Berger, J. G. & Johns, K. (2015). Simple Habits for Complex Times. Stanford, CA: Stanford University Press, n. 7.
Gorzeń-Mitka, I. & Okręglicka, M. (2014). Improving Decision Making in Complexity Environment. Procedia Economics and Finance, Volume 16, pages 402-409.
Kurtz C. F. & Snowden D. J. (2003), The new dynamics of strategy: Sense-making in a complex and complicated world, IBM Systems Journal 2003, Volume 42, Number 3.
Preußler, A.; Kerres, M. & Schiefner-Rohs, M. (2014): Gestaltungsorientierung in der Mediendidaktik: Methodologische Implikationen und Perspektiven. In: Hartung, Anja/ Schorb, Bernd/ Niesyto, Horst/ Moser, Heinz/ Grell, Petra (Hrsg.): Jahrbuch Medienpädagogik 10: Methodologie und Methoden medienpädagogischer Forschung. Wiesbaden: Springer, S. 253–274.
Snowden, D. & E Boone, M. (2007). A Leader’s Framework for Decision Making. Harvard business review. 85. 68-76, 149.