E-Akte: Warum sind die DMS so schlecht?

In ihrem Buch „Träge Transformation“ /Anmerkung 1/ machen sich Sascha Friesike und Johanna Sprondel Gedanken über die Gründe, warum Digitalisierungsprojekte in der deutschen Verwaltung so schleppend verlaufen. Als einen Faktor machen sie die schlechte Qualität der angebotenen Software aus: „Es wird mit Zitronen gehandelt (es entsteht ein ‚market for lemons‘).“ (Seite 14)

Die Projekterfahrungen bei der Einführung der E-Akte stützen diese Beobachtung.

Software an Abteilungen anpassen oder „am Standard bleiben“?

Wenn eine Verwaltung die E-Akte einführen will und dazu ein Dokumentenmanagementsystem beschafft hat, steht sie vor einer Weichenstellung. Sowieso muss sie die neue Software Abteilung für Abteilung einführen, wenn sie die Mitarbeiter:innen einigermaßen vernünftig schulen und in den ersten Tagen unterstützen will. Die Frage ist aber:

  • Führen wir in einem ersten Schritt nur eine Standardlösung ein, die für alle Abteilungen einigermaßen gleich aussieht, oder
  • versuchen wir gleich von Anfang an, das DMS an jede Abteilung anzupassen, indem z.B. differenzierte Vorlagen, spezielle Musterakten usw. zur Verfügung gestellt werden und dabei auch die Prozesse und Strukturen zu verbessern.

Im zweiten Fall haben wir es mit langen Übergangszeiten zu tun – bei größeren Verwaltungen mit 20, 30, 40 Abteilungen sind wir das schnell bei drei Jahren. In diesen Jahren arbeitet ein Teil der Verwaltung schon in der E-Akte und ein anderer Teil noch mit der Referenzakte „Papier“ und entsprechenden Abläufen. An den Nahtstellen zwischen beiden Bereichen knirscht es.

Also ist möglicherweise die erste Methode sinnvoller. Dann schrumpft die Übergangszeit vielleicht auf ein Jahr, alle Abteilungen gewöhnen sich schon einmal an eine Basisvariante der E-Akte – und später bessert man dann nach.

Die meisten Hersteller sind sowieso dafür. Ihre Gewinne machen sie mit dem schnellen Verkauf von Lizenzen – das ist für sie wie eine Gelddruckmaschine. Lange Unterstützungszeiten für das detaillierte Customizing sind bei weitem nicht so lukrativ.

Die Probleme des Nachbesserns

Später wird dann nachgebessert, heißt es also. Dann werden Abteilung für Abteilung die Prozesse angeschaut und das DMS auf sie zugeschnitten. Ein auf den ersten Blick sinnvolles Vorgehen – wir haben beim FAV selbst schon einmal ein Reifegradmodell für die DMS-Einführung entworfen /Anmerkung 2/

Das Problem ist nur: Kann das DMS diesen zweiten Schritt auch mitgehen? Oder ist es einfach nicht mächtig genug dafür?

Ein Beispiel aus der Praxis. In der Stadt Oberbergen a.I. ist das DMS in den meisten Bereichen eingeführt. Jetzt tritt eine Anforderung auf, die bislang nur angedacht war, aber noch nicht realisiert: die abteilungs- und/oder prozessübergreifende Suche nach Vorgängen, die ein bestimmtes Gebäude oder eine bestimmte Straße oder ein Flurstück betreffen.

Zum Beispiel gibt es den Kindergarten „Löwenzahn“. Zu diesem Kindergarten gibt es in der Stadtverwaltung verschiedene Vorgänge unterschiedlicher Ämter:

  • Der Kindergarten ist neu gebaut. Also hat der Hochbau eine Bauakte, die noch nicht geschlossen ist.
  • Die Abteilung Grünflächen gestaltet gerade die Außenanlagen.
  • Die Stadtentwässerung kümmert sich um den Anschluss an die Kanalisation.
  • Die Oberbürgermeisterin bereitet sich auf die Einweihungsfeier vor.
  • Auch das Amt für Öffentlichkeitsarbeit und Bekanntmachungen plant diverse Veröffentlichungen und Veranstaltungen.

Immer wieder möchte ein beteiligtes Sachgebiet auf die Unterlagen eines anderen Sachgebiets zugreifen, um sich über den jeweiligen Stand zu informieren. Früher musste man E-Mails schreiben oder telefonieren – heute mit der E-Akte müsste das doch einfacher gehen!

Die Suchfunktion des DMS ist nicht schlecht. Aber der Kindergarten taucht mit ganz verschiedenen Schreibweisen auf, je nach Abteilung

  • Kindergarten Löwenzahn
  • Kindergarten Goethestraße (beim Hochbau; denn zu Baubeginn stand der Name noch nicht fest)
  • KiGa Löwenzahn
  • KG Löwenzahn

Das heißt, egal welche Schreibweise ich eingebe, ich erhalte immer nur eine Teilaufstellung aller Vorgänge. Noch schlimmer: vielleicht bin ich mir gar nicht bewusst, dass es noch weitere Vorgänge gibt, die mir nur verborgen geblieben sind. Es gibt keine „Vollständigkeitsgarantie“ meiner Trefferliste.

Was wir brauchen: Das DMS muss uns dabei unterstützen, dass in Vorgangsnamen der Kindergarten immer gleich geschrieben wird. Das Projektteam hat dazu auch einen Vorschlag gemacht. Es wünscht sich die Möglichkeit, je Aktenzeichen (Prozess) unterschiedliche Verschlagwortungsmasken bei der Anlage neuer Vorgänge. Zum Beispiel so:

Die speziellen, d.h. nur zum Prozess 6325.02 passenden, Metadaten werden mit Hilfe von Dropdownfeldern eingegeben. Das ist weniger arbeitsintensiv als Eintippen und führt zudem zu höherer Ergebnisqualität.

Die Reaktion des DMS-Herstellers

Diese Art von Zusatzanforderung trat in verschiedenen Abteilungen auf – immer mit unterschiedlichen Daten, die abgefragt werden sollten. Mal waren es Straßennamen, mal Mitglieder des Kreisrats usw. usf. Es gab einen Bedarf der Anwender, und das entsprechende Customizing des Programms sollte beauftragt werden.

Der Ansprechpartner auf Seiten des Lieferanten sagte, die Software könne das nicht. Man könne aber einen Programmierauftrag erteilen. Die Stadt Oberbergen bat um ein Angebot. Das Angebot musste mehrfach angemahnt werden. Schließlich, nach drei Monaten, kam – kein Angebot, sondern ein Kostenvoranschlag. Aufwand: knapp 30 Manntage. Die Orga verhandelte mit der Kämmerei, und schließlich konnte der Auftrag erteilt werden.

Dann kam die Antwort des Product Owners des DMS-Herstellers (der ganz agil aufgestellt ist): Abgelehnt. Eine gründliche Prüfung habe ergeben, dass das Zusatzfeature nicht stabil programmiert werden könne. Bei Updates des Produkts könne es sein, dass die hinzuprogrammierten Erweiterungen überschrieben würden oder sogar die neue Version lahmlege. Das könne das Unternehmen mit seinen 1.200 Kunden in Deutschland nicht riskieren.

Das Ergebnis

Was war das Ergebnis?

  1. Ein Feature, das durchaus nicht exotisch ist (andere, neuere DMS-Produkte haben das im Standard eingebaut, ohne ein Aufhebens davon zu machen), kann nicht geliefert werden.
  2. Damit war der Übergang von Stufe 1 zu Stufe 2 des Projekts – also die ämterbezogene Anpassung des DMS – nicht mehr möglich.
  3. Diese Anforderung war von den Entscheidern Oberbergens (dem geschäftsleitenden Beamten und dem Amtsleiter Organisation) im Vorfeld nie angedacht worden. Sie war in keinem Lastenheft enthalten.
  4. Der Software-Hersteller hat offenbar 1.200 Kunden, die sich mit diesem niedrigen Leistungsniveau zufrieden geben. Und zwar vor allem, was die Kapazität zur Weiterentwicklung und das Update-Management angeht.

Wie kann so etwas passieren?

Kommen wir zurück zum Buch „Träge Transformation“. Friesike und Sprondel nennen folgende Faktoren für diese weit verbreitete Form der Blockade:

  • Den Entscheidern fehle die Expertise. „Jeder, der ein soziotechnisches System verändern will, braucht Expertise sowohl darüber, was genau das technische Problem ist, als auch darüber, wie genau der soziale Kontext aussieht, in dem eben dieses Problem angegangen werden soll. Oft werden solche Projekte jedoch von Menschen geleitet, denen eben diese Kompetenzkombination fehlt.“ (Seite 14)
  • Wenn die Entscheider aber keine Produktqualität von den Herstellern fordern können, weil sie gar nicht wissen, was Qualität beinhaltet, dann gibt es keinen Wettbewerb und das System wird träge. Die DMS-Firmen machen den Verwaltungen ein X für ein U vor. „Am Markt zeigt sich dann schnell, dass es sich gar nicht lohnt, das funktionierende U anzubieten, weil ja doch immer wieder das günstigere X gekauft wird.“

Erschwerend kommt hinzu, dass die Führungskräfte, die das Budget freigeben und die Auswahlkriterien festlegen, nicht nur keine Fachkenntnis haben. Sondern dass sie auch nicht wissen, dass sie keine Fachkenntnis haben. Meist Verwaltungsjuristen von der Ausbildung, fühlen sie sich im Vollbesitz gesellschaftlicher Allzuständigkeit, die niemals weiterer Unterstützung bedarf.

ANMERKUNGEN

/1/ Friesike, Sascha; Sprondel, Johanna: Träge Transformation. Welche Denkfehler den digitalen Wandel blockieren. Reclam, 2022

/2/ https://agile-verwaltung.org/2022/01/20/ein-reifegradmodell-fur-die-dms-einfuhrung/

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

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