Sich bewegen im nicht-agilen Umfeld: Woher kommt der Widerstand gegen Change-Projekte?

Seit es diese Webseite gibt – seit Februar 2016 – haben wir 39 Blogbeiträge veröffentlicht. Einsamer Spitzenreiter bei den Aufrufzahlen ist der Artikel von Veronika Lévesque „Agile Arbeitsformen im nicht-agilen Umfeld“. Er wurde bis heute 484 mal gelesen. Der Artikel auf Platz 2 folgt erst mit 224 Aufrufen.
Meine Schlussfolgerung: Der typische Leser unseres Forums möchte in seiner Verwaltung Dinge bewegen. Er gehört nicht zu den resignierten Beschäftigten oder gar denen in „innerer Kündigung“, wie sie in den Gallup-Erhebungen regelmäßig in großer Zahl ausgewiesen werden. Aber er stößt in seiner Umgebung auf Widerstand. Daraus folgt für mich: Unser Forum muss sich verstärkt konkreten Herangehensweisen zuwenden, wie man agile Vorgehensweisen verbreiten kann, auch wenn sie nicht gleich Unterstützung erfahren. Heute geht es mir erst einmal um die Formen, die Widerstand annehmen kann.

Ist Widerstand einfach nur „Trägheit“?

Wenn in der Öffentlichkeit von Widerstand gegen Änderungsprojekte die Rede ist, so geht es meist um die „trägen Mitarbeiter“. So zum Beispiel der Befund der Zeitschrift „Harvard Business Manager“ /1/, aber auch anderer Experten.
„Der Widerstand gegen Veränderungen wird oft als Grund für das Versagen von Veränderungsinitiativen angesehen. Wir wissen, dass sich Menschen gegen Veränderungen sträuben“, schreibt auch Jason Little in seinem weit verbreiteten Buch „Lean Change Management“./2/ Und an anderer Stelle: „Widerstand gegen Veränderung ist eine natürliche Reaktion, wenn die von dem Change betroffenen Menschen nicht in das Design des Changes einbezogen werden.“ /3/

Ausdrücke wie „natürliche Reaktion“ machen mich immer hellhörig. Es ist eine Begründung, die keine ist, ja die Notwendigkeit einer Begründung beiseite schiebt: Irgendwie liegt es in den Genen, und ich als Change Agent brauche nicht weiter darüber nachzudenken.

Aber ist das wirklich so?

Jason Little bringt ein typisches Beispiel:

Die oberste Führung einer Versicherung hat beschlossen, in ihrer IT-Abteilung agile Arbeitsmethoden einzuführen. Als ein Teilprojekt sollen Großraumbüros eingerichtet werden, um cross-funktionale Projektteams bilden zu können. Das Vorhaben wird überhaupt nicht agil, sondern klassisch top-down umgesetzt: Die betroffenen Mitarbeiter dürfen keinen Beitrag zur Gestaltung des neuen Bereichs leisten. Außerdem sind kleinere Schreibtische vorgesehen. Viele Mitarbeiter befürchten deshalb, dass für zwei Monitore nicht mehr genug Platz auf den Arbeitsflächen sein wird und deshalb ihre gewohnte Dual-Monitor-Arbeitsweise gefährdet ist. /4/

Also kommt es zu dem, was Little als „Widerstand“ bezeichnet. (Little ist in dieser Versicherung Mitglied in einem Projektteam namens QMO, das die beschlossenen Änderungen im Sinne der obersten durchsetzen soll.) Aber hat dieses Verhalten irgendetwas mit „trägheitsbedingtem Widerwillen“ oder „natürlicher Reaktion“ zu tun? Damit macht Little es sich zu einfach.

Formen von Widerstand der Mitarbeiter gegen Veränderungen

Aus meinen Projekterfahrungen gibt es verschiedene Gründe für „Widerstand“ von Mitarbeitern gegen Veränderungen. (Die Gründe beziehe ich nicht nur auf das obige Beispiel, zu dem die Informationen zu spärlich sind.)

Ich nummeriere die Gründe, die mir einfallen, mal durch:

W1: Die Mitarbeiter befürchten reale Nachteile. Also nicht nur, dass die Umstellung selbst einen Aufwand mit sich bringt. Sondern dass es ihnen hinterher schlechter geht als vorher.

W2: Die Mitarbeiter haben solche Erfahrungen bei anderen Changes schon gemacht. Vor einem Projekt wurden ihnen Versprechungen gemacht, von denen hinterher niemand mehr etwas wusste. Sie trauen den Projektinitiatoren nicht. Sie fühlen sich manipuliert.

W3: Widerstand aufgrund von „Nicht Wissen“: Ich weiß nicht so genau, was wie in welchen Schritten geplant ist und wie „das Neue“ am Ende aussehen soll. Also eher mangelnde Sicherheit als konkrete Befürchtungen wie unter W1.

W4: Die Angst vor „nicht Können“. Mit einer Veränderung sind neue Aufgaben/Tätigkeiten verbunden – oder zum Beispiel der Umgang mit einer neuen Software. Kann ich das? Blamiere ich mich. – Also wie unter W1, aber als irreale Befürchtung, aufgrund von Selbstunterschätzung.

W5: Die Mitarbeiter befinden sich in einer Anpassungshaltung. „Mit uns macht man ja, was man will. Wir haben sowieso keinen Einfluss.“ Sie ergreifen selbst keine Initiative, um im Projekt auftauchende Probleme anzupacken.

W6: Die Anpassungshaltung der Mitarbeiter ist bereits stark verfestigt. Sie ergreifen nicht nur keine Initiative, sondern lehnen alle Vorschläge der Einbeziehung ab.

W6 geht schon ins Manipulative über: Die Betreffenden wollen, dass im Projekt Probleme auftreten (also z. B. Versprechen der Führung nicht eingehalten werden), um ihre Haltung immer wieder bestätigt zu bekommen: „Seht ihr, ich hab’s ja gewusst, wie hier der Hase läuft.“

Die einzelnen W’s treten in der Praxis nicht isoliert, sondern in Kombination auf: W1 ist erfüllt, aber W5 verhindert, dass sich daran etwas ändert usw.

Die Differenzierung nach den verschiedenen Widerstandsformen erleichtert es mir als Change Agent, meine Maßnahmen gezielt einzusetzen. Wenn ich hingegen alles in die Sauce „natürliche menschliche Trägheit“ tauche, werde ich weniger aufmerksam und beobachte weniger genau, was die Menschen um mich herum bewegt.

Formen von WiderSTAND der Führungskräfte gegen Veränderungen

Jetzt kommen wir zu einem zentralen Punkt, sozusagen dem blinden Fleck im herkömmlichen Change Management: Leute wie Jason Little pflegen ganz spontan „den Blick von oben“. Changes sind für sie immer Pläne der Führung, die aus objektiven Gründen umgesetzt werden müssen. In dieser Sicht gibt es nur Widerstand der Mitarbeiter.

Übersehen wird in dieser Perspektive, dass auch Mitarbeiter Änderungen wollen, an deren Umsetzung sie häufig verzweifeln. Aber sie bekommen kein Projektteam namens QMO an ihre Seite gestellt, und über ihre Anliegen werden auch selten Beratungsbücher geschrieben.

Im obigen Beispiel wünschten sich viele Mitarbeiter, bei der Gestaltung und Ausstattung der neuen Räume einbezogen zu werden. Immerhin hatten sie ja das Prozesswissen. Das war ihr Veränderungsanliegen, und dagegen gab es – wie Little an anderer Stelle schildert – massiven Widerspruch seitens der Führung.

D. h. auch von Seiten von Führungskräften gibt es verschiedene Formen von Widerstand gegen Changes:

W7: Die Führungskräfte befürchten den Widerstand ihrer Mitarbeiter und vermeiden es deshalb, sie offensiv einzubeziehen. Sie versuchen, sich an den Mitarbeitern vorbeizumogeln. Sie halten die Ziele eines Projekts unter der Decke.

W8: Die Führungskräfte haben guten Grund, die Projektziele im Dunkeln zu lassen. Wenn z. B. ein Manager vorhat, ein Unternehmen gegen die Wand zu fahren, aber vorher noch einen dicken Bonus mitzunehmen, ist Transparenz für ihn sicher keine gute Option.

W9: Die Führungskräfte sind in einer Einzelkämpferhaltung: „Ich treffe hier die Entscheidungen. Ich weiß, was ich tue, und ich brauche keine guten Ratschläge – von niemandem.“ Auf Change-Anliegen ihrer Mitarbeiter einzugehen, kommt ihnen gar nicht in den Sinn. Sie haben sie einfach nicht auf dem Schirm.

Auch hier wieder gilt, dass die verschiedenen W’s in Kombination auftreten. Und dass es für Change Agents sehr nützlich ist, die verschiedenen Formen von Widerspruch zu analysieren, damit ihre Interventionen zielgerichtet werden. (Change Agents hier einfach verstanden als Menschen, die ein Interesse an Verbesserungen in ihren Organisationen haben.)

Der Widerstand, gegen den wir machtlos sind.

Es gibt noch einen Widerstand, nämlich den

W99: Psychopathie. 96% der Menschen sind normal (bzw. normal gestört, wie wir alle). Die restlichen 4% sind Psychopathen. Das ist erst einmal von der Position unabhängig (psychopathische Führungskräfte können ihre Gelüste nur freier ausleben). Psychopathen wollen Machtgefühle befriedigen und dazu andere quälen, mobben, Erfolge zerstören usw. Mit dieser Form von Widerstand gibt es keinen konstruktiven Umgang, weil man die Betroffenen nicht mit Sprache erreicht. Man kann sich nur von ihnen trennen (notfalls durch Flucht).

Die Liste der Widersprüche

Ich habe hier neun Formen von Widerspruch gegen Veränderungen aufgeführt, die ich aus meinen Projekten kenne. Frage an Sie, lieber Leser: erscheint Ihnen die Liste vollständig? Habe ich eine Form von Widerspruch vergessen?

Jetzt geht es darum, mit der Arbeit anzufangen: Mit welchem W können wir wie umgehen? Vielleicht ein Thema für die Konferenz am 10. Februar 2017 in Stuttgart. Ich könnte mir gut eine Open Space-Gruppe am Nachmittag dazu vorstellen.

Anmerkungen

/1/ Michael Leitl: Lost in Transformation, Harvard Business Manager, Mai 2016
/2/ Jason Little: Lean Change Management. Innovative Ansätze für das Management organisationaler Veränderung, Happy Melly Express, 2016
/3/ das., Klappentext
/4/ das., Seiten 60-65.

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

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