Von Erziehung und über professionelle Führungspraxis

Viele Führungskräfte sind und wurden Führungskräfte, weil sie fachlich besonders gut sind oder waren. Und meist nicht, weil sie gerne oder gut führen, oder an der Entwicklung von Menschen oder von Organisationen besonders interessiert oder dazu befähigt wären. Was ist denn nun eigentlich heute diese „Führung“? Niemand weiss es mehr so genau…. Gedanken dazu aus dem Tagebuch einer Führungscoachin.

Aus dem Tagebuch eines Taugeni… … Führungscoachs.

Im Führungskräftecoaching höre ich erstaunlich oft: 
„Seit ich Mutter / Vater bin, weiß ich, wie man führt.“

…und dann kommen zumeist Bilder aus Zeiten, in denen die Kinder klein, allenfalls im Vorschulalter oder gar in der Trotzphase sind. Selten bis nie erscheint das Bild mit selbständigen erwachsenen Familienmitgliedern, die schon lang nicht mehr hilflos und abhängig sind.

Führung erinnert an die Erziehung von Kleinkindern? Ernsthaft?
Ich frage mich, wann das so gewesen sein könnte. Oder ob jemals.
OK, zum Priester sagte man mal Vater….
Aber heute, im 21. Jahrhundert?
Wir hatten inzwischen Aufklärung, Demokratie und noch ein paar andere Werte, die ein anderes Menschenbild befördern, oder?
Und am Arbeitsplatz gilt das alles auch. Oder?

„Ich würde ja gern Verantwortung an mein Team delegieren – aber die können / wollen ja nicht.“
Die Mitarbeitenden der gleichen Personen sagen:
„Wir würden gern mehr Gestalten und Verantwortung übernehmen – aber wenn’s nicht genau so aussieht wie die Chefin (Männer sind klaro immer mit gemeint) es selbst gemacht hätte, dann ist es halt falsch …“

Und irgendwie beschreiben beide ihre Situation durchaus zutreffend. Der Knopf liegt wohl auch und vielleicht noch mehr im System als bei einzelnen Personen. Denn diese Problemlage ist kein individueller Einzelfall, sie ist branchen- und organisationsübergreifend weit verbreitet und beschäftigte viele.

Führungskräfte sind und wurden oft Führungskräfte, weil sie fachlich besonders gut sind oder waren. Und meist nicht, weil sie gerne oder gut führen, oder an der Entwicklung von Menschen oder von Organisationen besonders interessiert oder dazu befähigt wären. Solche Chefinnen sind ihre eigenen besten Sachbearbeiterinnen – und die Mitarbeiterinnen weniger versiert. Ein bisschen wie Kinder, denen gesagt werden muss, was, wann und wie.
Sehr treffend beschrieben ist das mit dem Bild der Tomatenproblematik

Wer die beste Tomate zum Gärtner befördert, verliert meist eine herausragende Fachkraft und gewinnt eine höchstens mittelmäßige Führungskraft. (…)
So bleibt der frisch-gebackene Chef dann nicht selten sein bester Mitarbeiter und behindert dadurch sich und sein Team im Vorankommen. 

https://fuehrung-erfahren.de/2021/10/die-tomate-und-der-gaertner/

Man fühlt sich als Führungskraft unentbehrlich und muss überall mit dabei sein und mitreden. Schliesslich ist man qua – und trotz – Beförderung selbst sein bestes Pferd im Stall…

Führungsarbeit wird oft als weit weniger befriedigend wahrgenommen als die Fach- / Sachexpertisearbeit. Führen ist weniger eindeutig, man erlebt sich unsicherer, die Anforderungen scheinen schwieriger, unberechenbarer. Man ist dort weniger erfolgsverwöhnt, weil sich Führung als Leistung nicht so leicht darstellen lässt und oft eher nur informell gesehen wird, wenn überhaupt. 
„Denn befördert wurde und werde ich mit sachlicher Leistung… und das interessiert mich ja auch und das kann ich nachweislich gut. Also ist das natürlich mein Schwerpunkt.“ – so der bewusste oder unbewusste Gedankengang im Hintergrund.

Und so bleibt bei vielen Führungspersonen Führung stets im Schatten des „Kerngeschäfts“.
Dabei ist sie doch wichtig.
Oder?

Steve Jobs sagte sinngemäss, er hole nicht hervorragende Leute um ihnen zu sagen, was sie tun sollen. Er hole hervorragende Leute, damit sie ihm sagen, was er tun solle. Klingt irgendwie logisch. Und das gilt auch im Umkehrschluss – wenn sie gegängelt werden von Führungspersonen und / oder starren Standards und ausufernden Reglementierungen, kommen beziehungsweise bleiben die wirklich Guten nicht.

Ich selbst vertrete und lebe folgende Haltung: Von mehreren kollektiv erarbeitete Produkte, in denen sich unterschiedliche Expertisen und Erfahrungen abbilden, manifestieren sich Möglichkeiten und eine Qualität, die niemand von den Beteiligten allein hätte entstehen lassen können. Sie sind hochwertiger, solider, realitätsnäher und umsetzungspraktischer als die, die eine Person allein bäckt. Allein entwickle und entscheide ich nur, wenn ich der tiefen, ehrlichen – und belegbaren – Überzeugung bin, dass wirklich ich allein die einzige bin, die gerade über einschlägige überlegene Expertise verfügt (und das ist tatsächlich nur äusserst selten oder nur bei sehr kleinen, überschaubaren, bereits einigermassen bekannten oder Routinethemenstellungen der Fall).

Mit dieser Einstellung verändern sich Hierarchieverständnis, Führungsarbeit und der Blick auf die Zusammenarbeitsorganisation. Prof. Peter Kruse –  eines meiner persönlichen Vorbilder – stellt fest, dass, …

… wenn die Führungsebene viel oder alles entscheidet, dann ist die Organisation so schlau (oder eben nicht schlau) wie diese und damit notwendig begrenzt.

Quelle: siehe Video unten

Hier ein freundlicher Einblick als Einstieg in Prof. Kruses Wirken und Wesen:

Führung, interne Dynamik und freundliche Schaukelbewegungen …

Was ist denn dann Führung?

Hier ein kleiner Zettelkasten an Ideen und Gedanken dazu:

„Leadership really isn’t about you. It’s about empowering other people as a result of your presence, and about making sure that the impact of your leadership continues into your absence.“
Leadership dreht sich tatsächlich nicht um dich. Es geht darum, andere zu ermächtigen durch dein Wirken und sicherzustellen, dass die Wirkung deiner Führungsarbeit weitergeht, auch wenn du nicht (mehr) da bist.
(Frei & Morris, 2020), zitiert nach Führung erfahren)

Führung ist eine völlig andere Art von Arbeit, eine ganz andere Aufgabenstellung als Sach-/Facharbeit. Andere Ziele, andere Fertigkeiten, andere Vorgehensweisen, andere Prioritäten.

Ein Teil ist Management mit dem Fokus auf das, was sich strukturieren lässt.
Also Arbeits- und Einsatzplanung, Organisation, strukturelle Rahmung, Regelsetzung und Regeleinhaltungsüberprüfung, Controlling, Problemlösung, Belohnung … . Management soll zu Ordnung und Kohärenz verhelfen helfen.
Ein anderer, zentraler Teil von Führung ist Leadership mit dem Fokus auf Mensch und Organisation.
Richtungsentwicklung und das große Ganze im Blick haben und vermitteln, Strategien entwickeln (lassen) und verfolgen, Beteiligung, Entwicklung und Zugehörigkeit ermöglichen, Teams bauen, Energie ins System geben, Mitarbeitenden die Möglichkeit offerieren, ihre Arbeit auch langfristig gut und gern zu tun … . Leadership stiftet Sinn, befördert Beweglichkeit, unterstützt Umgang mit Dynamik und hilft bei Veränderungen. [frei nach John Kotter]

Oder ins Bild gesetzt, als visuelles Sammelprotokoll während eines Führungsworkshops:

[frei nach V. Lévesque]

Ein äußerst spannender und anwendungsnaher Ansatz wird von Norbert Landwehr und seiner Umsetzungsinterpretation zu Prof. Willkes Kontextsteuerung in den Ring geworfen.
Er nennt diese zentralen Merkmale von Führungspraxis:

  • Die Sicherung des individuellen Gestaltungsraums aller Fachpersonen
    Es ist wichtige Aufgabe von Führung, den Mitarbeitenden den essenziellen Freiraum zu gewährleisten und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass dieser für die professionelle Arbeit genutzt wird; insbesondere für eine Praxisgestaltung, die den Ansprüchen und Erfordernissen der jeweiligen Situation Rechnung tragen soll.
  • Zurückhaltung bei direkten Eingriffen
    Dies impliziert ein Aushalten von nicht perfekten Situationen – von Situationen, die von den eigenen Vorstellungen abweichen können, weil eine andere, ebenfalls ernst zu nehmende professionelle Auffassung dahinterstehen kann. Führung bedeutet, den persönlichen Freiraum der Fachpersonen trotzdem ernst zu nehmen: also nicht vorschnell einzugreifen, nur weil oder wenn Unterschiede zum eigenen Erwartungshorizont bestehen.
  • Anwalt des Gesamtsystems sein
    Neben der Stärkung der Autonomie der Teilsysteme (Personen, Teams, Bereiche, Projekte etc.) hat sich die Leitung vor allem um deren Rückbindung in den organisationalen Gesamtzusammenhang zu sorgen. Es braucht Rahmensetzungen, die sicherstellen, dass die Teilsysteme in eine Richtung gelenkt werden, die dem Gesamtsystem zuträglich sind. Es geht hier um Rahmensetzungen, die dem persönlichen Gestaltungsraum übergeordnet sind. So zum Beispiel:
    – das Schaffen von Rahmenbedingungen zur Erleichterung von Kooperations- und Koordinationsprozessen;
    – strategische Richtungsentscheide (profilgebende «Visionen» mit operablen Konkretisierungen);
    – Organisatorische Maßnahmen und Regelungen, die ein funktionsfähiges Nebeneinander und Miteinander der einzelnen Teilsysteme ermöglichen;
    – Vorgaben und Regeln, die es braucht, um die Kompatibilität von persönlichen / individuellen Entscheidungen mit dem institutionellen Ganzen zu sichern;
    – Rahmenvorgaben, die für das partizipative Aushandeln von normativen Vorgaben (mit einschränkender Wirkung auf die individuellen Freiräume) hilfreich sind.
  • das Aushandeln des gemeinsamen Rahmens
    Die Rahmensetzungen, welche die Eckpfeiler der Kontextsteuerung bilden, können grundsätzlich von oben vorgegeben werden;
    ihre Steuerungskraft wird aber stärker, wenn diese partizipativ entwickelt werden, d. h. wenn die betroffenen Personen involviert werden in die Suche nach den geeigneten Rahmenvorgaben, welche die Anliegen des Ganzen angemessen berücksichtigen.
  • das Anstossen und das Einfordern von differenzierten Praxisreflexionen
    Die Führung hat dafür zu sorgen, dass die Teilsysteme Informationen über die Wirkungen des eigenen Tuns erhalten und dass diese Informationen konsequent in die praxisbezogenen Selbstreflexionsprozesse einfliessen. Beispielsweise braucht es Evaluations- und Feedbackprozesse, damit die Qualität der selbstgesteuerten Prozesse – insbesondere die Wirkungen des eigenen Handelns auf das Gesamtsystem – erkannt werden kann.
  • Führung über persönliche Kontakte
    Die wichtigste Führungsebene in Systemen, in denen der Gestaltungsfreiraum der Teilsysteme für die Aufgabenerfüllung essenziell ist, ist die Ebene des persönlichen Kontaktes. Die Führungsperson wird selber zu einem wichtigen Impulsgeber im Selbstreflexionsprozess der Teilsysteme und wird in diesem Sinne selber Teil des Reflexionssystems.
  • Befristete Suspendierung der Selbststeuerung als Ausnahmeregelung
    Die Führung kann – in begründeten Fällen und zeitlich streng befristet – die selbstbestimmte Praxisgestaltung von Teilsystemen oder Mitarbeitenden vorübergehend aufheben und operative Eingriffe in das Subsystem vornehmen. Indikation für einen solchen Eingriff ist immer dann gegeben, wenn das System als Ganzes durch Missverhalten einer Einzelperson Schaden erleidet oder wenn die Erfüllung des Auftrags ganz offensichtlich nicht mehr gewährleistet ist. In solchen Fällen ordnet die Leitung auf einer operativen Ebene Maßnahmen an, die den Gestaltungsraum einer Fachperson oder -gruppe direkt tangieren können. Dabei gilt die folgende Annahme: Da die Person / die Gruppe gegenwärtig nicht in der Lage ist, ein vorliegendes Problem mittels Selbstreflexion angemessen zu erkennen und selber adäquat darauf zu reagieren, ist ein Ausseneingriff unverzichtbar. Solche Ausseneingriffe widersprechen dem Selbststeuerungspostulat und sind daher mit großer Vorsicht einzusetzen; vor allem sind sie gegenüber der betreffenden Person rechtfertigungsbedürftig – es braucht dafür transparente, bekannte und im Vorfeld etablierte Kriterien
    [frei nach N. Landwehr, Pädagogische Schulführung – Impulse für die Reflexion der Führungspraxis].
Ein immanentes Anliegen von Führung ist es, die Mitarbeitenden dazu zu ermächtigen und darin zu unterstützen,
teilzuhaben, beizutragen, zusammenzuarbeiten,
gemeinsam gute Entscheide möglich zu machen
und kollektiv Verantwortung und Sorge dazu zu tragen,
dass die Organisation die Zukunft gestaltet und meistert.

Diese Rahmung ist den meisten Ansätzen zu Führung gemeinsam.

Führungskräfte sind so verstanden mehr Ermöglicherinnen für Themen und für die Menschen als nur „die besten Sachbearbeiterinnen“. Dazu gehört, förderliche Rahmenbedingungen für die Arbeit und die Entwicklung der Mitarbeitenden zu schaffen, interaktiv und im Dialog zu handeln, mehr Fragen zu stellen und anzuregen als selbst zu sagen und alles eh‘ schon selbst (besser) zu wissen.

Wenn schon die Familienmetapher, dann stellt euch bitte im Umgang mit den Kolleginnen mitnichten Dreijährige im Trotzalter vor. Sondern vielmehr erwachsene Nachkommen, die ihren Weg und eigene Erfahrungen bereits gemacht haben, die viel wissen und noch mehr können, in bestimmten Belangen sogar mehr als die „Elterngeneration“ der Führungskräfte.

Und dann seid gespannt, ob sich im Alltag etwas verändern lässt …..

Autor: Veronika Lévesque

Veronika Lévesque ist beim Institut für Arbeitsforschung und Organistionberatung iafob Organisationsbegleiterin. Und Projektmensch mit einer Vorliebe für Fragen, für die es noch keine fertige Antwort gibt. Begeisterte Grenzgängerin: Unterwegs in 4 Ländern, 3 Sprachen und am liebsten in den Zwischenräumen zwischen Disziplinen. Schwerpunkte: Transformationshebammerei, Organisations- und Entwicklungshandwerk (Manufaktur, nicht von der Stange), Agile Spielfelder in nicht-agilen Umwelten, Methodenentwicklung, Umgang mit Nicht-Planbarem, Bildungssysteme vs. nicht-formale Bildungswege und 'Fehler machen schlauer.’

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