Empirisches Arbeiten öffnet die Augen

Bei der Auseinandersetzung mit anstehenden Problemen arbeiten wir in unseren Verwaltungen oft lösungsorientiert. Kaum stellen wir uns ein Problem vor Augen (oder erhalten wir es vor Augen gestellt) – schon laufen wir auf die nächstbeste Lösung zu.

Selten machen wir uns die Mühe, den Phänomenen genauer auf die Spur zu kommen. /1/ eGovernment ist in aller Munde. Aber welche Probleme soll eGovernment für wen lösen? Was müssen wir von der E-Akte verlangen, damit sie möglichst großen Nutzen bringt?

Man würde erwarten, dass hierzu empirische Untersuchungen vorliegen – ca. 15 Jahre nach Beginn der Diskussion um eGovernment. Und dass aufgrund von Untersuchungen dann auch Anforderungen an Lösungen formuliert wurden. Das ist aber keineswegs der Fall.

Wie wissen nicht, wo wir stehen

Wie arbeiten wir eigentlich? Wie viel Zeit verbringen wir beispielsweise in Sitzungen? Sind die produktiv oder nicht? Wie könnte man das messen? Wie könnte man sie verbessern? Könnte uns ein gutes DMS bei verbesserten Abläufen unterstützen, z. B. einen Teil der Sitzungen überflüssig zu machen und den verbleibenden Teil effizienter? Wie könnte man das in einem Leistungsverzeichnis formulieren?

Oder, anderes Beispiel: Ich bin kein Gegner der eRechnung. Aber ist es wirklich gerechtfertigt, so viel Energie für dieses Thema zu binden? Wie viel Zeit verbringen unsere Verwaltungsbeschäftigten mit dem Abzeichnen und Bezahlen von Kreditorenrechnungen? 1% oder 2%? Keinesfalls mehr. Aber keiner weiß es genau (mir zumindest ist keine empirische Untesuchung dazu bekannt.)

Und dann soll das eines der Hauptthemen von Digitalisierung sein? Und was ist mit den restlichen 98 oder 99% unserer Arbeit? Wann kümmern wir uns um die? Ach so, später, in 20 Jahren, wenn die famosen Workflows überall installiert sind. (Seit Ende der 1990er Jahre sind die Worte „Prozessoptimierung“ und „Workflows“ in aller Munde. Was hat sich seitdem praktisch getan? Und warum nicht? Vielleicht – ketzerischer Gedanke – liegt es gar nicht am „Beharrungsvermögen der Mitarbeiter“, vielleicht ist das Konzept ja falsch.)

Und die Unternehmen (vor allem Handwerker und Mittelstand) – was sind deren hauptsächliche Anforderungen an eine reibungslosere Zusammenarbeit mit unseren Verwaltungen? Ist das wirlich die eRechnung? Ist es nicht vielleicht eher das gesamte Auftraggeber-Lieferanten-Verhältnis, an dem es krankt? So dass viele Unternehmen gerade im Baubereich, wenn sie es sich leisten können, an gar keinen öffentlichen Ausschreibungen mehr teilnehmen. Trägt die eRechnung irgendetwas dazu bei, dieses Verhältnis zu verbessern? Solche Fragen werden nirgends thematisiert.

Eine Lanze für das neugierige Hinschauen

Wir vom Forum Agile Verwaltung möchten gerne dazu beitragen, das Thema Digitalisierung und andere strategische Herausforderungen empirisch zu unterfüttern. Das geht nur mit den Experten in den Verwaltungen zusammen – also mit euch, unseren Lesern – zum gemeinsamen Nutzen.

Am liebsten wäre uns ein Feuerwerk der Neugierde, des „Von-außern-Draufschauens“ auf unsere Organisationen und ihre Anspruchsberechtigten. In einigen unserer Projekte haben wir schon mit so etwas begonnen – immer anlassbezogen, mit nur punktuellen Ergebnissen und kaum verallgemeinerbar. Aber mit anderen zusammen können wir vielleicht im Laufe der Zeit einen „Werkzeugkoffer der Empirie“ einrichten, aus dem sich alle bedienen können.

Ein Beispiel: Das Aufräumen der Server

Die Frage des Aufräumens kam in einem DMS-Projekt in einer kleineren Stadtverwaltung zur Sprache (ca. 60 Mitarbeiter). Es ist schon einige Jahre her. In einem Workshop sagte jemand: „Was machen wir eigentlich mit den Alt-Dokumenten, wenn wir DMS einführen? Übernehmen wir die von den Servern? Lassen wir sie, wo sie sind? Oder eine mittlere Lösung: alle Dokumente, die älter als ein Jahr sind, werden nicht mehr übernommen?“

Auf einmal wurde uns klar: Wir wissen gar nicht was ein „veraltetes Dokument“ ist. Wie kann man es definieren? Die erste Idee war: Wir verschaffen uns einen Überblick!

Dazu habe ich ein Tool programmiert. Es ist eine Excel-Datei mit Visual-Basic-Makros. Es liest alle Dateien auf einem Server oder einer Festplatte oder in einem Windowsordner ein, bestimmt das Änderungsdatum und erzeugt eine Altersverteilung.

Das Ergebnis sah so aus:

Altersverteilung der Dateien auf einem Server

79% der Dateien waren älter als ein Jahr, 45,3% sogar mehr als drei Jahre alt. Wir waren uns einig, dass grob geschätzt 75-85% der Dateien „veraltet“ waren – veraltet in dem Sinne, dass sie nicht mehr im regelmäßigen Zugriff benötigt wurden. Dass man sie aber nicht physisch löschen durfte wegen gültiger Aufbewahrungsfristen.

Wenn man vom Mittelwert ausgeht, d.h. von einem Anteil von 80% veralteter Dokumente auf den Servern, dann bedeutet das etwa

  • auch 5 mal so viele Ordner;
  • bei Desktop-Search 5 mal so lange Trefferlisten;
  • vermutlich 1,5 bis 2 mal so lange Suchzeiten wie nötig (eine um das Fünffache zu große Datenmenge wirkt nicht linear auf Suchzeiten, sondern vermutlich irgendwas in Richtung „Wurzel aus 5“ = das 2,2fache).

Wie wichtig war das Problem?

Klar war: die Lösung musste in einer Art „selbstaufräumendem DMS“ bestehen. Überhaupt nicht denkbar ist heutzutage, dass Leute ihre Dokumentenbestände manuell „aufräumen“. Dazu hat niemand Zeit. Also muss das System eine praxistaugliche Lösung anbieten – und das bedeutet automatisch oder halbautomatisch funktionieren.

Wenn es eine solche Lösung gäbe: Wie hoch wäre ihr Nutzen? Könnte man den Nutzen sogar in Euro und Cent schätzen?

Dazu haben wir eine kleine Beispielrechnung angestellt (auch diese geschätzt, noch nicht gemessen).

Angenommen, wir suchen 10 mal pro Tag (= 8-Stunden-Arbeitstag) ein Dokument (mit Suchen ist auch gemeint: im Windows-Baum dahin navigieren). Eine Suche in einer optimal schlanken Dokumentenmenge würde 30 Sekunden dauern. Weil unsere Dokumentenmenge unnötig aufgebläht ist, brauchen wir das Doppelte – also eine Minute.

Wir verschwenden also pro Arbeitstag 10 mal 30 Sekunden = 5 Minuten. Bei 480 Arbeitsminuten pro Tag ist das rund 1% unserer Personalkapazität (wer es lieber plastisch hat: pro Jahr 2,2 Tage unnütz mit Klicken und Scrollen verbrachte Arbeitszeit). Oder noch anders: bei 40.000 € Personalkosten pro Jahr und Stelle wären das 400 € – allein durch dieses eine Feature eines DMS. Die Anschaffungskosten eines DMS liegen größenordnungsmäßig bei 900 €.

So kann man rechnen. Hinzu kommt aber: Unübersichtliche Dokumentenordnung machen uns Stress. Ein bisschen Ordnung unterstützt den Flow bei der Arbeit.

Vom Nutzen der Neugier

Ich bin von meiner Ausbildung Statistiker, und deshalb finde ich statistische Verfahren so spannend. Andere haben andere methodische Pfeile im Köcher. Aber in allen Fällen habe ich in meinen Projekten die Erfahrung gemacht: Das eigene Untersuchen der eigenen Umgebung führt immer zu unerwarteten Ergebnissen und zu neuen Gedanken. Und stärkt das Team. Auf einmal fängt man an mit der Lösungssuche, aber nicht indem man fertige Lösungen „auf dem Markt“ sucht (das kann später kommen), sondern indem man erst selbst das Lösungsterrain absteckt.

Auch im vorliegenden Fall haben wir eine Lösungskonzeption gefunden und in unser DMS-Lastenheft aufgenommen. Aber der Nutzen lag schon vorher, in der Phase des Augenaufmachens.

Ach so, und das Excel-Tool gibt es natürlich auch noch. Ihr könnt es hier downloaden: Festplattenanalyse 2014-06-25

Achtung! Weil die Datei Makros enthält, lässt WordPress es eigentlich nicht  zu, es hier zu hinterlegen. Deshalb hat die Download-Datei die Endung „pdf“. Ihr müsste die Endung wieder zurückbenennen in „xlsm“. Dann funktioniert das Tool ganz normal.

Anmerkungen

/1/ Eine positive Ausnahme bildet der Post von vergangener Woche „Inspiration, Partizipation, Kreativität – innovative Ansätze bei der Entwicklung einer neuen Stadtteilbibliothek in Würzburg“, https://wp.me/p7fSNe-YM

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

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