Agile Anmerkungen zum aktuellen Stand der eGovernment-Projekte

In unserer beliebten Reihe „der agile Besserwisser“ beugen wir uns heute über die Frage: „Wie steht es eigentlich mit der Einführung von eGovernment in deutschen Kommunalverwaltungen?“. Dazu haben wir uns ein Beispiel aus einem bayerischen Landratsamt erzählen lassen.

Das Bürgerportal der Zulassungsstelle

Das Landratsamt Oberbergen /1/ in Bayern befindet sich in der Erprobungsphase von eGovernment. Das heißt, es möchte prüfen, auf welchem Wege den Bürgern elektronische Dienstleistungen angeboten werden können, wie groß die Resonanz ist und mit welchem Aufwand man dafür rechnen muss.

Als Pilotprojekt hat der Freistaat Bayern eine Dienstleistung in der Zulassungsstelle ausgewählt (und damit allen Landratsämtern vorgeschrieben), und zwar die „Außerbetriebssetzung eines KFZ“. Dieses Angebot ist seit dem 01.01.2015 verfügbar und gilt für alle Kraftfahrzeuge, die seit diesem Datum zugelassen wurden.

Für derartige Angebote der Kommunen und Landkreise hat das Land Bayern ein Bürgerportal eingerichtet. Der Betreiber ist die AKDB (Anstalt für Kommunale Datenverarbeitung in Bayern).

Um das Angebot zu nutzen, muss der Bürger folgenden Weg beschreiten:

  1. Er ruft die Webseite des Landratsamtes Oberbergen auf und wird dort zum zentralen Bürgerportal des Freistaats Bayern weitergeleitet. Oder er geht direkt zur URL https://www.freistaat.bayern.
  2. Dort muss er sich mit Hilfe seines Bundespersonalausweises (mit aktivierter Chipfunktion) registrieren. Dazu muss ein Kartenlesegerät für den Ausweis bereit stehen, und es muss die sog. AusweisApp2 des Bundes auf dem PC installiert sein.
  3. Wenn er das getan hat, kann der Bürger ein Konto auf dem Bürgerportal Bayern einrichten. Dazu gehören ein Benutzername und ein Passwort. Damit kann er sich künftig bei weiteren Transaktionen gegenüber Kommunen oder Landesbehörden ausweisen, ohne immer von neuem seinen Personalausweis mittels Lesegerät auslesen zu lassen.
  4. Jetzt weiter mit der konkreten KFZ-Abmeldung:
    Der Bürger muss jetzt den grünen Aufkleber auf der Zulassungsbescheinigung Teil I abziehen. Darunter wird ein Sicherheitscode sichtbar. Diesen Sicherheitscode muss er in das Webformular eintragen.
  5. Dann muss er auf den Stempelplaketten der Kennzeichen die Plakette abziehen und die Schrift unter dem kleinen Bayerischen Staatswappen freirubbeln. Dort werden jetzt auch jeweils PIN’s sichtbar. Auch die müssen in das Formular eingetippt werden.
    D.h. bei Anhänger oder Zweirad sind es 2 Nummern (Bescheinigung + 1 Nummernschild), bei Autos usw. sind es 3 Nummern (Bescheinigung + 2 Nummernschilder).
  6. Jetzt ist er soweit und kann die Abmeldung seines KFZ beantragen.
  7. Die Gebühren kann er mittels ePayment (Giropay oder Kreditkarte) bezahlen.

Nutzen und Aufwände

Seit dem 01.01.2015 bis heute (Mitte Juni 2017) wurden ca. 20 Abmeldungen nach diesem Verfahren registriert. Genaue Zahlen über die Gesamtzahl der Abmeldungen in diesem Zeitraum im Landkreis Oberbergen liegen uns nicht vor. Eine grobe Schätzung aufgrund der gesamtbayerischen Daten ergibt rund 2.100 Abmeldungen in diesem Zeitraum für seit dem 01.01.2015 zugelassene KFZ.

Also rund 1% der Bürger empfand das neue Verfahren als Erleichterung, während 99% weiterhin die Abmeldung persönlich vornahmen.

Dafür gibt es sicher verschiedene Gründe:

  • Es braucht eine Zeit, bis Neuerungen sich durchsetzen.
  • Solange nur eine Dienstleistung elektronisch angeboten wird, aber andere, damit verknüpfte nicht (häufig dürfte mit einer Abmeldung eine Anmeldung verbunden sein), dann muss der Bürger sowieso persönlich zur Zulassungsstelle und wird den neuen Service nicht nutzen.
  • Die Beschaffung eines Personalausweis-Lesegerätes stellt offenbar eine hohe Hürde dar.

Bei der Recherche für diesen Artikel habe ich mich telefonisch bei anderen Verwaltungen und auch bei Beraterkollegen in eGovernment-Projekten und DMS-Projekten erkundigt. Und diese berichteten einhellig von ähnlichen Erfahrungen wie das Landratsamt Oberbergen: die neuen elektronischen Dienste werden auch dort, wo sie angeboten werden, von den Bürgern nur sporadisch genutzt.

Diesem relativ ernüchternden Ergebnis standen nicht unerhebliche Aufwände gegenüber:

  1. Die Kosten für das Web-Portal (für die Service-Seite und für die Schnittstelle zum KFZ-Fachverfahren) betragen derzeit ca. 25.000 € pro Jahr, erklärt Herr Michaelis, der IT-Leiter in Oberbergen /1/. Die Kosten für weitere Produkte erhöhen diese Kosten „wahrscheinlich“ nicht. Über das Portal sollen zukünftig alle elektronischen eGovernment-Dienstleistungen abgebildet werden.
    Diese Kosten übernimmt derzeit der Freistaat Bayern, aber unter volkswirtschaftlichen Gesichtspunkten (natürlich nicht unter kommunalpolitischen!) ist das zweitrangig.
  2. Der interne Aufwand des Landratsamtes war nicht unerheblich. Ein Server musste in der DMZ des LRA bereitgestellt werden. Hinzu kamen schätzungsweise 10 Personentage in der IT. Wie hoch diese Kosten (und auch Aufwendungen für zusätzlich benötigte Hard- und Software) bei der Implementierung weiterer Dienstleistungen sein werden, sei natürlich jetzt nicht bekannt, so Michaelis.

Herr Michaelis selbst beurteilt das bisherige Ergebnis dieses Projekts als „bisher nicht zielführend.“ Und er fügt hinzu: „Aber irgendwann muss man ja anfangen.“ Und er hofft auf das „Prinzip Henne – Ei“ – das heißt dass mit der Zeit das Angebot seine eigene Nachfrage schafft.

Aber anderen Verwaltungen rät Herr Michaelis zu einer langsamen Gangart: „Informationsstand aktuell halten. Nichts überstürzen.“

Wenn man eine Hochrechnung wagt, kommt man nämlich auf nicht unerhebliche Aufwände in der Zukunft. Geht man davon aus, dass es ca. 100 Service-Angebote im LRA Oberbergen gibt, die man den Bürgern über das Online-Portal anbieten könnte (die KZF-Abmeldung ist nur eine Dienstleistung im Rahmen des Produkts 122431 „Zulassungen, Abmeldungen und Löschungen von Fahrzeugen“ des bayerischen Produktplans von 2008 – und der Produktplan umfasst Hunderte von Produkten!), dann kommt man auf 1.000 Personentage in der IT des Landratsamtes, um das gesamte Serviceangebot online zu stellen. (Den Server in der DMZ habe ich jetzt mal als Einmalausgabe verbucht.)

Hinzu kommen zusätzliche Softwarekosten, wenn die Fachverfahren erweitert werden müssen (wie derzeitig die bayerische Zulassungssoftware iKFZ).

Das ist natürlich eine sehr grobe Schätzung. Mir scheint nur ein einfaches „Weiter so“, ohne sich mit der bislang mangelnden Akzeptanz des ganzen Verfahrens durch die Bürger auseinanderzusetzen, irgendwie nicht sehr einleuchtend.

Was wäre agil anders?

Eine der wesentlichen Grunderfahrungen der modernen Produktentwicklungen lautet: „Der Hersteller eines neuen Produkts weiß nie, was der Kunde will.“ Das war einer der Ausgangspunkte, die zur Entwicklung der neuen, „agilen“ Arbeitsweisen geführt haben.

Wir im Forum Agile Verwaltung haben das als den Grundsatz formuliert: „Beziehe die Anspruchsberechtigten ein“ /2/. Das ist hier offenbar nicht oder in nicht ausreichendem Maße passiert.

Es gibt zwei grundsätzliche Service-Philosophien in der öffentlichen Verwaltung: eine wohlwollende, vielleicht sogar fürsorgliche „Wir entwickeln für unsere Bürger den bestmöglichen Service.“ Das ist ein paternalistischer Standpunkt, der letztlich trotz immenser Kosten nicht überall mehr erfolgreich ist.

Und die andere Philosophie: „Wir entwickeln gemeinsam mit den potenziellen Nutzern im Dialog und im Experiment die besten Lösungen.“

Zwei Arten von Servicephilosophien herrschen in der Öffentlichen Verwaltung vor

Das würde heißen, dass man erst einmal im Kleinen verschiedene Möglichkeiten der Authentifizierung an Webportalen mit freiwilligen Bürgern testet, bevor man ein Gesamtangebot in einem Landesportal implementiert und dort den Weg schon fest vorgibt. Privatunternehmen, die neue Produkte anbieten (z. B. Banken mit Online-Banking-Angeboten), testen oft 20, 30 neue Varianten, um alle Akzeptanzkriterien durch ihre Kunden in Erfahrung zu bringen.

Das heißt, es ist ein nutzerzentrierter, experimenteller Ansatz, der oft auch über die Grenzen des modischen Design Thinking hinausgeht. Solche Methoden bringen höheren Nutzen bei erheblich geringeren Kosten – aber einer ganz großen Bereitschaft, sich auf neue Wege einzulassen.

Das gegenwärtige Verfahren ist für einzelne Bürger, die nur ein, zwei Kontakte im Jahr zur Gemeinde- oder Kreisverwaltung haben, offenbar zu aufwendig. Nur professionelle Nutzer (z. B. Autohändler), die öfter Kfz ummelden, dürften einen Nutzen haben.

Offenbar hat sich bei den Verantwortlichen des Service-Angebots eine Denkweise durchgesetzt, die die Sicherheit über alle anderen Nutzenaspekte der Anwendung stellt. Auch das ist typisch für Projekte, die „nach zuständiger Abteilung“ abgewickelt werden. Agile Projekte hingegen versuchen, cross-funktionale Teams zu bilden, die ganz verschiedene Anforderungen in das Projekt einbringen und die Lösungen im Dialog statt im Monolog erarbeiten.

Anmerkungen

/1/ Alle Namensangaben wurden anonymisiert.
/2/ Sie dazu den Artikel https://agile-verwaltung.org/was-bedeutet-agile-verwaltung/was-heisst-agile-verwaltung/

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

Ein Gedanke zu „Agile Anmerkungen zum aktuellen Stand der eGovernment-Projekte“

  1. Lieber Wolf,
    das ist ein sehr schönes Beispiel, wie die Digitalisierung durch zu viel Sicherheitsdenken behindert wird. Der hier beschriebene Prozess mit Kartenlesegerät und Personalausweis stammt noch aus der Zeit der PKI- und Signatur-Infrastruktur-Lobby, die gerne die technischen Möglichkeiten zu ihren Business-Gunsten ausreizen wollten, und wo das staatliche Umsetzungsteam verpasst hat die Industrie vor den Karren zu spannen. Denn gerade die Industrie hat mit den größten Nutzen, wenn Kunden über einen sicheren Weg in ihre Systeme gelangen, Thema Authentizität des Kunde und Integrität der Daten. Hier wäre es gescheit gewesen, einen Fond einzurichten, in den die Industrie eingezahlt hätte, um darüber dem Bürger kostenfrei die notwendige Infrastruktur mitzugeben. Dann würde die Hürde deutlich gesenkt sein.
    In dem hier beschriebenen Verfahren gibt es allerdings eine weitere Hürde: da muss erst noch was per Post zugeschicht werden. Das verzögert den Prozess nochmals deutlich und macht ihn kaum praktikabel. Und das wäre sicher durch eine Testphase sichtbar geworden und hätte zu einer annehmbaren Lösung führen müssen …
    Viele Grüße
    Martin

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