Agile Führung: Die Schwarmintelligenz des Teams hervorlocken

Es ist das Kick-off-Meeting für ein großes und komplexes Projekt in einer Großstadtverwaltung. Der Erste Bürgermeister, Vertreter der Steuerungsgruppe, redet seit einigen Minuten Unsinn. Er lässt sich aus über Dinge, in denen er keinesfalls Experte ist, und gibt Lösungswege vor, die in die Irre führen werden. Die wirklichen Fachexperten, die mit am Tisch sitzen, werfen sich verstohlene Blicke zu. Aber keiner traut sich, dem Bürgermeister zu widersprechen, der zum Teil ihr Linienvorgesetzter ist.

Der Bürgermeister spürt die kritische Aura im Raum. Er interpretiert sie als mangelnde Motivation der Projektgruppe. Also wird er noch nachdrücklicher, versucht noch mehr Druck,  schlägt noch mehr Pflöcke als Projektvorgaben ein. Sie werden mit hoher Wahrscheinlichkeit den Projekterfolg gefährden. Am Schluss gehen alle aus der Sitzung und haben ein mulmiges Gefühl: dieses Projekt wird nicht rund laufen.

Soweit, so häufig. Aber was wären agile Ratschläge an Bürgermeister und Projektteam? Wie kann eine Führungskraft führen auf Feldern, wo sie selbst das Terrain nicht kennt? Wie kann ein Team die Rolle der Führungskraft anerkennen, wenn es weiß, dass diese sachlich nicht unbedingt „besser“ ist?

Um eine mögliche Antwort zu illustrieren, möchte ich ein historisches Beispiel erzählen. Und zwar handelt es von der Präsidentschaft John F. Kennedys und ihren beiden Hauptereignissen: der Schweinebucht-Invasion und der Kuba-Krise. /1/

Kennedys Team bei der Schweinebucht-Invasion

Beide Ereignisse unterschieden sich fundamental: die Schweinebucht-Invasion endete als Katastrophe, die Kuba-Krise gilt einhellig als historischer Erfolg. Beides – Katastrophe und Erfolg – wurden vom gleichen Beraterkreis verantwortet (es gab unter Kennedy kaum Fluktuation). Was sich änderte, waren Vorgehensweise und „Spirit“.

1961 plante die gerade ins Amt gekommene Kennedy-Administration den Sturz Fidel Castros. Dazu wurden ca. 1.300 Exilkubaner militärisch ausgebildet, in einem geheimen Lager in Guatemala (die USA sollten im Hintergrund bleiben). Der Beraterkreis um den Präsidenten, mit vielen missionarischen Ideen und unter Abgrenzung vom Rest der Washingtoner Elite, pflegte eine missonarische Kultur: er fühlte sich wie eine marschierende Kompanie in Feindesland, die Reihen eng geschlossen, mit Loyalität zum Präsidenten als oberstes Gebot.

Die geplante Invasion (die vom Vorgänger Eisenhower übernommen wurde und deren moralische Qualität mich hier nicht interessiert) stand unter keinem guten Stern. Ein paar Wochen vor dem Startschuss veröffentlichte die New York Times den Bericht eines Reporters, der zufällig in Guatemala auf das Camp gestoßen war und nun öffentlich spekulierte, ob wohl ein Angriff auf Kuba bevorstehe. Der Präsident und seine Berater diskutierten, ob man die Aktion abbrechen müsse: Lasen die kubanischen Revolutionäre die NYT? Wenn ja, würden sie erraten, was die US-Absichten waren? Wie groß war das Risiko?

Ein oder zwei wortstarke Berater vertraten die Meinung: das Risiko sei minimal. „Wir machen weiter.“ Und wenn tatsächlich die Kubaner die Invasoren angreifen sollten, könnten die sich immer noch in das Escambray-Gebirge zurückziehen, das rd. 130 km vom Landungsplatz lag.

Die Invasion wurde durchgeführt. Die 1.300 Exilkubaner wurden nach der Landung in der Schweinebucht sofort von 20.000 Regierungssoldaten umzingelt. Zwei Tage später waren alle Angreifer tot oder gefangen. In die Cordilleren kam kein einziger.

Die Kuba-Krise: Das gleiche Team, 18 Monate später

Etwa anderthalb Jahre später, im Oktober 1962, begann die Kubakrise. Die Regierung der Sowjetunion unter Chrustschow begann im Verborgenen, Atomraketen auf Kuba vor der amerikanischen Küste zu stationieren. Dadurch würde das amerikanische Festland in die Reichweite der russischen Raketen geraten. Die Kennedy-Administration war sich einig, diese Bedrohung auf keinen Fall zu tolerieren. Die Frage war: Was tun?

Die Frage war aber auch: Wie entscheiden? Das Desaster der Schweinebucht durfte sich auf keinen Fall wiederholen. Es musste um jeden Preis vermieden werden, dass Risiken unentdeckt blieben. Denn diesmal war der Einsatz, der auf dem Spiel stand, ungleich höher als „nur“ der Sturz einer unliebsamen Regierung: es ging um die Vermeidung eines Dritten Weltkriegs.

Jedes Mitglied im Schwarm sieht einen anderen Ausschnitt der Welt.

 

Das Beraterteam um Kennedy beschloss ein völlig neues Vorgehen. Kritik im Team an der Meinung eines anderen Temmitglieds – und sei es auch der Präsident selbst – sollte nicht mehr als Verletzung der Gruppeneinheit gelten, sondern im Gegenteil als absolute Pflicht. Niemand, der auch nur den leisesten Zweifel an einer vorgeschlagenen Vorgehensweise hegte oder der ein Risiko sah, das die anderen nicht sahen, musste sich laut bemerkbar machen. Das Bild der marschierenden Kompanie, die eng die Reihen geschlossen hielt, wurde abgelöst von einer ganz anderen Gestalt: dem aufgefächert ausschwärmenden Spähertrupp, der alle Gefahren im Raum in den Blick nahm. Und wer den Löwen verborgen sah im hohen Gras, musste die anderen laut warnen.

Und noch etwas anderes wurde im neuen Verhaltenscode geändert: die Sprache. Prognosen über zu erwartende Entwicklungen („Die russischen Schiffe werden die Blockade nicht zu durchbrechen suchen“) mussten mit einer Wahrscheinlichkeit versehen werden. „Ich schätze diese Chance auf 70%“ (oder auf 60% oder auf 90). Ein solcher Satz beinhaltet nämlich implizit den zweiten Satz „… und ich befürchte zu 30%, mich zu irren“ (oder zu 40 oder zu 10%). Die Aufnahme des Zweifels in die eigene Meinung zwingt mich in einen inneren Dialog mit meinem verdoppelten Selbst – ich mobilisiere die Intelligenz des Schwarms, aus dem ich selbst ja auch immer bestehe. Und ich signalisiere den Anderen meine Einsicht von der eigenen Fehlbarkeit.

Der Präsident als agiler Leader avant le mot lockte so die Schwarmintelligenz seines Teams hervor. Er beförderte die Kultur der vielfachen Sichten, gekoppelt mit einer positiven Bewertung des Zweifels als Grundhaltung. So gelang es der amerikanischen Administration, eine der gefährlichsten Krisen des vergangenen Jahrhunderts zu meistern.

Anmerkungen

/1/ Die Geschichte habe ich gelesen in Philip E. Tetlock, Dan Gardner: Superforecasting. Die Kunst der richtigen Prognose, S. Fischer Verlag, 2016, S. 206-210

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

6 Kommentare zu „Agile Führung: Die Schwarmintelligenz des Teams hervorlocken“

  1. Alle sind per Du, dann bin ich es auch.

    Lieber Wolf,

    danke für den sehr guten Artikel. Es ist für mich ein spannender Gedanke, eine Methode in den Kontext von moralisch Fragwürdigen Ereignissen zu bringen. Beim Thema Selbstorganisation fällt mir das Militär ein, was unter anderem vom „Blitzkrieg“ geprägt wurden. Die nationalsozialistische Wehrmacht „arbeitete“ mit kleinen selbstorganisierten Einheiten (Teams) während die Franzosen eine sehr starke Hierarchie hatten. Der Angriffskrieg war/ist in jeder Hinsicht unmoralisch. Die Methode selbst wurde übernommen.

    Daher finde ich es gut, wenn du die die „Anspruchsberechtigten“ als Sicherheitsanker mit einbeziehst.

    André

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    1. Lieber André,

      es ist ganz spannend, zu sehen, dass Scrum beispielsweise in direkter Linie von der „Auftragstaktik“ des deutschen Militärs (entwickelt schon unter Friedrich II. von Preußen, vertieft durch die Stein-Hardenbergschen Reformen 1807 und dann durch Clausewitz und Moltke) herstammt. Nur „dank“ dieser „agilen“ Kriegsmethode konnte die zahlenmäßig unterlegene NS-Wehrmacht solange durchhalten.
      Jeff Sutherland war bekanntlich Kampfflieger in Vietnam und praktizierte dort zuerst die Auftragstaktik, bevor er ihre Prinzipien in sein Scrum-Framework einbaute. Agilität ist ein Werkzeug und als solches a-moralisch (also weder positiv noch negativ zu bewerten).

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      1. Hallo Wolf,

        na, da habe ich mich ja ordentlich in die Nesseln gesetzt :-). Zur Agilität: Das sehe ich natürlich genauso und freue mich auf weitere Beiträge.

        Grüße, André

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  2. Lieber Wolf,
    klasse, was hier wieder alles lernenen konnte:
    Neben der Schwarmintelligenz, die sich im Vertrauen auf den Anderen erst richtig entfalten kann, ein geschichtlicher Akt der Beeinflussung anderer Regierungsentwicklungen durch die USA, die sie aktuell ausgerechnet Anderen vorwerfen, wobei sie dies nachweislich in vielen anderen Staaten davor und danach getan haben.
    Martin

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    1. Lieber Martin,
      das ist schon so: es gibt einige agile Methoden, die quer zur Moral stehen. Also die man auch für Zwecke einsetzen kann, die vermutlich viele Leute moralisch nicht unterstützen.
      Deshalb haben wir ja auch in unseren Entwurf für „Agile Leitsätze in der öffentlichen Verwaltung“ einen Grundsatz aufgenommen, der lautet: „Die Anspruchsberechtigten (= Stakeholder) einbeziehen.“ Das wären im Falle von Kennedy die Kubaner gewesen. Oder jetzt bei der Frage, ob und wie man Facebook regulieren sollte, wären es seine Nutzer. Mir fällt im Augenblick kein Beispiel ein, wie man diesen Leitsatz für unmoralische Ziele anwenden könnte. In beiden Fällen geschah bzw. geschieht dies natürlich nicht.

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