
Es gab und gibt eine Vielzahl an E-Government-Initiativen in Deutschland, aber keine bisher wirklich durchschlagenden Erfolge. Deutschland wird in den einschlägigen Rankings regelmäßig auf die hintersten Plätze verbannt. Hoffnungen werden – bei Bürger und Mitarbeitern – geweckt, um dann doch wieder enttäuscht zu werden.
Einige Beispiele
Der „neue“ Personalausweis wird seit dem November 2010 ausgegeben. Auf dem Ausweis befindet sich eine elektronische Signatur im Sinne der eiDAS-VO, die auch für Behördengänge genutzt werden kann. Doch nur sehr wenige verwenden die Möglichkeiten im Alltag. Wer schafft sich schon ein teures Lesegerät an, wenn er dieses kaum nutzen kann? Es fehlt schlicht und ergreifend seit Jahren an einer nennenswerter Zahl umgesetzter alltagstauglicher Anwendungsszenarien.
Ähnliches gilt für die sogenannte De-Mail. Ein deutscher Sonderweg, der eine verschlüsselte Kommunikation zwischen Bürger und Verwaltung ermöglichen soll. Für viel Geld halten Städte und Gemeinden – auch aufgrund einzelgesetzlicher Regelungen – den Zugangskanal offen, der jedoch kaum bis gar nicht Verwendung findet. Dagegen sind Verschlüsselungsstandards wie PGP oder S/MIME in den Amtsstuben kaum zu finden.
Unmengen an Ressourcen werden für Portale oder für Bürgerapps investiert, die allerdings alle zusammen an einem kranken: es gibt viel zu wenige echte digitale Prozesse dahinter und für den Bürger sind sie nicht attraktiv. Nach außen wird im Sinne der Bürgerfreundlichkeit „Digitalisierung“ demonstriert, während im Hintergrund analoge Prozesse, Medienbrüche und mangelhafte digitale Infrastrukturen vorherrschend sind.
Auch das Thema E-Akte lässt noch wenig Raum für Optimismus. Viel zu oft ist sie nichts anderes als die Fortführung der Papierakte in Form der Überführung des Aktenplans in ein Dokumentenmanagementsystem. Nicht selten fehlen Schnittstellen zu Fachanwendungen, sind Prozesse nicht auf digitale Aktenführung abgestimmt und auch die Infrastruktur der digitalen Arbeitsplätze ist mangelhaft. Dies führt wiederum dazu, dass am Ende doch wieder eine Papierakte geführt wird.
Ursachenforschung
Warum gelingt es uns in Deutschland nicht, das Thema E-Government voranzubringen? Die Vielzahl der Initiativen legt nahe, am politischen Willen liegt es offenbar nicht. Auch nicht am Willen der Verwaltung an sich. Folglich müssen die Ursachen anderweitig zu suchen sein.
Infrastruktur
Die digitale Infrastruktur in Behörden ist im Vergleich zu manchen Unternehmen eher unterentwickelt. Einheitlich ausgestattete Arbeitsplätze, die die Besonderheiten der Aufgaben des individuellen Arbeitsplatzes nicht abbilden, sind die Regel. Die Mitarbeiter der Stadtkasse arbeiten mit derselben Hardwarespezifikation wie die Kollegen der Bauverwaltung. Naheliegend, dass die Bearbeitung eines digitalen Bauplans mit einem Standardbildschirm wenig Freude bereitet. Grundlegende erforderliche Rahmenbedingungen, die den digitalen Datentransfer behördenübergreifend ermöglichen, sind meist nicht definiert und nicht vorhanden. Von Glück reden kann die Stadtverwaltung, die an eines der kommunalen Rechenzentren angeschlossen ist und das elektronische Postfach für den Transfer von Daten nutzen kann.
Fach- und Methodenwissen
Die öffentliche Verwaltung in Deutschland ist hochgradig effektiv. Sie ist geprägt durch die Grundsätze des Berufsbeamtentums, das seinen Fokus auf die Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandeln ausrichtet. Traditionell herrscht damit eine verwaltungsrechtliche Sicht auf das staatliche Handeln vor. Den Hauptanteil der im Öffentlichen Dienst im engeren Sinne Beschäftigten wird von Männern und Frauen gebildet, die die duale Ausbildung zum gehobenen Dienst durchlaufen haben – den Diplom-Verwaltungswirten. Sie sind diejenigen, die in den Städten, Gemeinden und Landkreisen als Führungskräfte und Sachbearbeiter das Rückgrat bilden. In Großstädten, Landesbehörden und Ministerien bestimmen zumeist Verwaltungsjuristen in den höheren Rängen das Bild. Ihnen ist gemeinsam, dass in Ausbildung und beruflichen Sozialisation eben das tradierte Verständnis einer auf Rechtsstaatlichkeit ausgerichteten Verwaltung dominiert. IT wird als „Unterstützung“ zwar anerkannt und wahrgenommen, dennoch bleibt die Bedeutung der IT in der Verwaltungsorganisation unterrepräsentiert. In Folge fehlt es Entscheidern allzu oft an dem erforderlichen Fach- und Methodenwissen, um das Thema Digitalisierung ernsthaft zu durchdringen. Auch wenn sich in den letzten Jahren diesbezüglich viel getan hat, so ist es nach wie vor um die digitale Kompetenz schlecht bestellt.
Prozesse
Bevor auch nur an eine außenwirksame Integration der Bürgerkommunikation gedacht werden kann, müssen zuerst die Weichen im inneren der Verwaltung für die Digitalisierung gestellt werden. Hier fehlt es zumeist nicht nur an digitalisierten Prozessen, sondern auch an der Kenntnis der Prozesse und Arbeitsläufe als solche. Im Hintergrund findet der überwiegende Teil der Prozesse nach wie vor in analoger Form statt, selbst dann, wenn es digitale Eingangskanäle gibt, da es an Möglichkeiten und Rahmenbedingungen einer medienbruchfreien Bearbeitung fehlt.
Zuständigkeitsdenken
Wenn wir Prozesse und Abläufe digitalisieren, dann bedeutet dies, dass wir aus dem tradierten Zuständigkeitsbereichsdenken ausbrechen müssen. Es geht darum, Prozesse über Behördengrenzen, Ämtergrenzen und Zuständigkeiten hinaus zu verstehen, denn nur so können wir die Schnittstellen auflösen. Entscheidungen müssen in diesen Projekten über Zuständigkeitsgrenzen getroffen werden. Aber genau dies findet in der Praxis oft nicht statt, sondern wird vielmehr in Gremien und über Hierarchiebenen hinweg diskutiert und dann bestenfalls sehr spät entschieden.
Anwenderorientierung
Bürgerbeteiligung ist ein Dauerbrenner – zumindest in den Rathäusern ist sie in vielen Bereichen als gesetzt zu sehen. Sie wird gerne genutzt, viel praktiziert. Aber – ja, es gibt ein aber – eben nicht, wenn es um die Verbesserung der Prozesse und Abläufe aus Bürgersicht geht und noch weniger aus Sicht der einzelnen Mitarbeiter. Der Anwender – ob Bürger oder Mitarbeiter – sitzt bei den laufenden Projekten zur Digitalisierung meist nicht am Tisch. Doch gerade ihr tägliches Erleben wäre wichtig, um gute Lösungen zu entwickeln, die nicht an ihrer Lebenswirklichkeit vorbeigehen. Und so werden Unmengen an Entwicklungskosten investiert, um am Ende festzustellen, dass niemand das fertige Produkt nutzt, wo doch alle Beteiligten alles rechtlich wasserdicht gemacht haben. Leider eben aber nicht anwendertauglich.
Wie könnte es anders gehen?
Agile Ansätze könnten helfen, die zentralen Probleme zu lösen (leider nicht alle):
Sie zeichnen sich durch ein cross-funktionales, also silostrukturdurchbrechendes Denken aus. In agilen Projekten sind alle erforderlichen „Fachfunktionen“ vertreten, dadurch sind auch alle betroffenen Themenbereiche durch mitarbeitende Teammitglieder eingebunden.
Den Fokus richtet die agile Herangehensweise nicht nur auf den Kunden als Auftraggeber, sondern auch auf den Anwender. Er ist ausdrückliches Element der Arbeitsweise. Das Sich-In-die-Rolle-Hineinversetzen gehört zum methodischen Grundgerüst, das unter anderem in den sogenannten User Storys ihren Ausdruck findet.
Agile Ansätze sind iterativ-inkrementell ausgerichtet. In kurzen Zyklen, maximal von maximal 4 Wochen, werden potenziell auslieferbare Teilergebnisse einem breiten Publikum präsentiert, um die Rückkoppelung zwischen Anwender, Auftraggeber und Umsetzungsteam zu ermöglichen. Das Ergebnis fließt in die nächste Iteration ein.
In jeder Iteration werden – so der Anspruch – Mehrwerte für den Kunden und die Anwender geschaffen. Das ist der zentrale Fortschrittsmaßstab. Gibt es diesen nicht, dann ist dies ein Alarmzeichen für das agile Projektmanagement. Gleichzeitig werden Prozesse und Standards, Dokumentationen und bürokratische Abläufe auf das notwendige Minimum reduziert.
Nicht revolutionär, aber in der Tat etwas ungewöhnlich: agile Teams arbeiten innerhalb eines Rahmens selbstorganisiert. D. h., es gibt keine klassische Führungskraft. Die Führungsrollen sind je nach Fokus im Team verteilt. Das fördert die Motivation und die Kommunikation innerhalb des Teams und damit auch das Engagement. Die Haltung, wie auch die Methoden hinter dem agilen Manifest, sind auf Transparenz ausgerichtet. So können Fehler schnell sichtbar gemacht werden. Nicht um Jemanden dafür verantwortlich zu machen, sondern um sie schnellstmöglich zu beseitigen und so wichtige Ressourcen nicht unnötig zu verschwenden.
Es gibt eine Reihe von Ländern, die im Bereich E-Government genau dies erkannt habe (unter anderem die baltischen Staaten) und mit Unterstützung agiler Ansätze erfolgreich Digitalisierungsprojekte vorangetrieben haben. Warum nicht auch in Deutschland? Es sollte uns den Versuch wert sein, um nicht mehr das ewige Schlusslicht in Sachen E-Governement zu sein und nicht länger um den Schlaf gebracht zu werden.
Hallo Thomas,
sicher schlägt hier auch ein altes Mem der Deutschen nieder, das sich im letzten Quartal des 19. Jahrhunderts bildete, als mit großer Anstrengung die Industrie sich bemühte, den anfänglich durch die Briten gesetzten Makel ‚Made in Germany‘ in genau das Gegenteil, ein Qualitätsgütesiegel zu verwandeln. Dieses Mem ist nur schwer kleinzukriegen und so wollen immer noch viele Deutsche eine 120%-ige Lösung anstreben, statt sich am Pareto-Prinzip mit den 80% zu orientieren.
Hinzu kommt, dass wir mit dem BSI, dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnologie zwar ein schlagkräftiges Instrument haben, das für Sicherheit sorgt. Aber genau das hat extrem hemmende Wirkung, macht sie doch vieles in den Behörden zur Pflicht, was die Digitalisierung wieder sehr teuer macht und sich viele scheuen, dieses Geld in die Hand zu nehmen. Es gibt nur sehr wenige Pragmatiker, die sich darüber hinwegsetzen und eben nicht die Sicherheitskriterien anwenden und leichtere Lösungen angehen.
Viele Grüße
Martin
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Stimmt, das finden wir ja nicht nur in der Verwaltung vor.
Sondern auch in Unternehmen, nur das bei Projektleitern eine „geringerer“ Schaden entsteht, als bei Politikern -Welche um die Wählergunst buhlen müssen.
Ein offener Umgang, eine aktive Beteiligung Nicht nur als F&A Runde – der Bevölkerung könnte so vieles voran bringen
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Bin ich gerade drüber gestolpert:
„Frage: Sie meinen, wenn die Menschheit eine Zukunft haben möchte, dann geht das nur durch Direkte Demokratie?
… Die Direkte Demokratie ist nur ein Fahrzeug, ein Werkzeug. Die Menschen müssen über ihre Schatten, über ihre Ängste springen. Vor allen Dingen müssen wir einmal mit dem Denken anfangen.“
Fundstelle: Interview zur Direkten Demokratie mit einem Meisterschüler Joseph Beuys
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