Überwindung der Silos: Fachverfahren als Sackgasse

Das Denken in Objekten, die letztlich auf die Hängemappe eines Sachbearbeiters als „Einzelakte“ zurückgeht, ist von Softwareherstellern in eine Fülle von sogenannten „Fachverfahren“ übersetzt worden. Ein Fachverfahren bildet in der Regel

  • 1 Objektkategorie im Besitz von
  • 1 Abteilung

ab, mit der die Sachbearbeiter die Prozesse ihrer Abteilung abwickeln. (Unter Objektkategorien verstehen wir so etwas wie „Flurstücke“, „Immobilien“, „Mitarbeiter und Personalakten“, „Hundesteuerzahler“ usw.)

Eine Flut von Fachverfahren

So gibt es in einer Verwaltung entsprechend der obigen Aufzählung vielleicht

  • ein Fachverfahren „Bauordnung“, mit dem zum Beispiel Bauanträge von Bürgern und Unternehmen bearbeitet werden;
  • ein Fachverfahren zur Erledigung von Führerscheinanträgen;
  • ein Fachverfahren Gebäudemanagement (meist CAFM genannt), mit dem die verwaltungseigenen Immobilien betreut werden;
  • und noch ein Fachverfahren zur Erteilung von Jagdscheinen.

Die Fachverfahren haben ein geradezu epidemisches Ausmaß angenommen. In manchen Kommunalverwaltungen gibt es dreistellige Anzahlen von derartigen Softwareprodukten, die alle betreut und gewartet werden wollen und für die regelmäßig Updates eingespielt werden müssen.(Staatliche Behörden auf Bundes- und Länderebene sind weniger betroffen, weil die Anzahl ihrer Prozesse und der von ihnen betreuten Objektkategorien sehr viel geringer ist.)

Meine These ist, dass ein gutes Dokumentenmanagementsystem (DMS) die meisten dieser Softwareinseln überflüssig macht (mit einigen Ausnahmen /1/).

Verfestigung der Silos

Sachgebiete gruppieren sich in der Regel um Objektkategorien: ein Bauamt hat seine Grundstücksakten, eine Fahrerlaubnisbehörde ihre Führerscheinakten, ein Personalamt seine Personalakten usw. usf.

Jede Objektkategorie bezeichnet eine Liste von Objekten – Mitarbeitern, Gebäuden usw. -, zu denen jeweils eine klassische Fallakte gehört. Diese Fallakten bilden den Schatz des jeweiligen Amtes, und sie bilden auch schon einen ersten Schritt zur gemeinsamen Informationsmanagement-Sprache, die für die weiter zu entwickelnde Teamarbeit so wichtig ist.

Innerhalb der Ämter und Sachgebiete sind in der Regel einzelne Sachbearbeiter für einzelne Objekte („Fallakten“) zuständig. Auch sie entwickeln ein spontanes Eigentümerverhalten gegenüber „ihren“ Akten.

Fachverfahren setzen auf den papiernen Fallakten auf und überführen sie ins Digitale. Sie erlauben es, Stammdaten zu Objekten zu erfassen und zu pflegen. Sie stellen oft Dokumentenvorlagen zur Verfügung, mit denen Standardschreiben verfasst werden können, die eben die Stammdaten zu einem Objekt verwenden. Und sie haben oft auch eine rudimentäre Vorgangsphilosophie, indem man in ihnen z. B. „Projekte“ anlegen kann.

Abbildung 1: Eine Maske zur Erfassung von Stammdaten in einem verbreiteten CAFM (zur Anonymisierung in Excel nachgebildet)

Abbbildung 1 zeigt eine von vielen Masken in einem weit verbreiteten Fachverfahren für Gebäudemanagement, das auch in einigen öffentlichen Verwaltungen eingesetzt wird. Eine sehr große Anzahl von Stammdaten kann auf diese Weise in einheitlicher Form verwaltet und zur Verfügung gestellt werden.

Aber diese Stammdaten sind natürlich nur der Fachabteilung zugänglich. Kein anderes Amt hat in der Regel Lizenzen für die Spezialsoftware und natürlich auch keinen Zugriff auf Dokumente. Das Fachverfahren hat das Amtssilo stärker betoniert, als dies je mit einer Windows-Ablage möglich wäre.

So haben Fachverfahren zwar auf der einen Seite die niedrig hängenden Früchte im Prozessmanagement geerntet und viele Vereinfachungen und Beschleunigungen ermöglicht. Sie haben aber auf der anderen Seite auch die Silostrukturen in den Daten und in den Köpfen verfestigt. Denn keine andere Abteilung hat die notwendigen Lizenzen, um auf die Daten des Verfahrens zugreifen zu können.

Abteilungsübergreifender Bedarf an konsolidierten Informationen („Stammdaten“)

Beim Übergang zur ämterübergreifenden Zusammenarbeit – zur eigentlichen Teamarbeit entlang den Prozessen – stehen wir vor der Herausforderung, dass Fallakten auch für „externe“, „fachfremde“ Teammitglieder zugreifbar und verständlich sein müssen. Das in ihnen enthaltene Wissen, das bisher im Amtssilo verschlossen war, wird zum Schatz der gesamten Verwaltung und dieser zugänglich gemacht.

Nehmen wir wieder das Beispiel „Räume und Gebäude“. In einem unserer Projekte stellte sich heraus, dass sich verschiedene Abteilungen Raumlisten angelegt hatten:

  • das Gebäudemanagement brauchte die Räume für die Entgegennahme von Reparaturaufträgen („die Heizung funktioniert nicht in Raum xy“) und ihre Weiterleitung an die Handwerker;
  • das Veranstaltungsmanagement vergab oft Räume an externe Gruppen und speiste bestimmte Raumdaten in die Nutzungsverträge ein, die aus Haftungsgründen jeweils geschlossen werden mussten;
  • im Outlook wurde vom Sekretariat der Orga-Abteilung eine zentrale Liste der Besprechungsräume gepflegt, damit Mitarbeiter sie für Sitzungen reservieren konnten.

Diese Listen waren fast nie aktuell. Besprechungsräume wurden umgewidmet oder aufgeteilt in Büros. Durch Erweiterungsbauten kamen neue hinzu. Und, ganz erstaunlich: Räume wurden alle paar Jahre umnummeriert.

Abbildung 2: Stammdaten, die silo-übergreifend von Interesse sind

Nun gab es Informationen zu den Räumen, die nur einzelne Abteilungen betrafen. Aber es gab doch eine Schnittmenge von Informationen, die für alle interessant waren. Es bestand ein Interesse an einer zentralisierten Pflege der Raum- und Gebäudestammdaten, von denen wiederum ein Teil jeweils allen drei beteiligten Sachgebieten einheitlich, also zentral und standardisiert zur Verfügung gestellt werden sollten (ein vereinfachtes Beispiel zeigt die Abbildung 2).

Fachverfahren mit Schnittstelle oder gleich Abbildung im DMS?

Die Frage war, ob diese Aufgabe mittels eines neu zu beschaffenden CAFM-Fachverfahrens bewerkstelligt werden sollte oder ob sie nicht auch im DMS abzuwickeln wäre. Ein CAFM hätte bedeutet: um die gemeinsam benötigten Stammdaten inclusive dort abgewickelter Bau- und Sanierungsprojekte auch anderen Abteilungen zugänglich zu machen, hätte man eine sehr komplexe Schnittstelle CAFM <–> programmieren müssen!

Die Verwaltung besorgte sich also die Beschreibung eines CAFM (sein Leistungsverzeichnis) und verglich es mit dem Lastenheft, das schon für das DMS verfasst worden war. Die Tabelle zeigt einen Ausschnitt aus dem CAFM-LV:

Anforderungen an ein Gebäudemanagement-System
(Auszug aus einem Leistungsverzeichnis)

Stammdaten zu Räumen Die nachfolgenden Stammdaten sind für das Raummanagement im CAFM anzulegen und zu pflegen:

•        Gebäude

•        Bauteil

•        Raum bzw. Raumnummer (z.B. 224)

•        eindeutige Raum-Nr. (z.B. UHG.T.08.224)

•        Länge des Raums [in Meter]

•        Breite des Raums [in Meter]

usw. weitere 30 Merkmale

Struktur des Baumkatasters Die nachfolgenden Stammdaten sind für das Baumkataster im CAFM anzulegen und zu pflegen:

•        Baum ID-Nummer

•        Datum der letzten Begehung

•        Erfasser

•        Baum vorhanden

•        Baumname (botanisch)

•        Baumname (deutsch)

usw. weitere 15 Merkmale

Weitere Anforderungen folgten für weitere Objektkategorien: für Gebäude, für Fahrstühle und Heizungen usw. usf.

Im Lastenheft der Verwaltung für ein noch zu beschaffendes DMS wurden diese Anforderungen auf zwei Sätze reduziert. Diese Sätze sind allerdings sehr viel abstrakter formuliert und deshalb vielleicht auch auf den ersten Blick nicht so begeisternd für die Kollegen vom Gebäudemanagement:

  1. Wir möchten beliebige Objektkategorien anlegen können (Anmerkung: egal, ob es sich um Bäume, Räume, Gebäude oder Gänseblümchen handelt – einfach alles, was uns später noch mal einfällt).
  2. Wir möchten einer Objektkategorie beliebige Merkmale zuordnen können (Anmerkung: egal, ob es sich um eine Raumnummer oder einen botanischen Baumnamen handelt).

Diese zwei Anforderungen erschlagen schon mal ca. 25% des CAFM-Leistungsverzeichnisses. Und haben den Vorteil, dass die Verwaltung nicht vom Hersteller abhängig ist, wenn ihr mal eine neue Objektkategorie „Gewässer“ einfällt oder ein neues Baummerkmal „Farbe der Blüten“.

Anmerkungen

/1/ Wenn es Prozesse gibt, die dauernden gesetzlichen Änderungen unterliegen, dann ist es sinnvoll, diese Änderungen nicht durch jede Verwaltung selbst in die Software einpflegen zu lassen. Diese sollte man – wie z. B. bei der Leistungsgewährung nach SGB XII – durch einen einzigen zentralen Hersteller vornehmen lassen. Alles andere wäre Verschwendung. Aber diese Voraussetzung ist nur bei maximal 10% der Fachverfahren gegeben.

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

6 Kommentare zu „Überwindung der Silos: Fachverfahren als Sackgasse“

  1. Hallo Wolf,
    ich habe einen etwas anderen Blick auf Fachverfahren. Diese bieten nämlich, wenn schon die elektronischen Akten im Silo stecken, also jede Organisationseinheit ihren eigenen durch Berechtigung abgeschirmten Bereich hat, immerhin die Möglichkeit, so etwas wie „Bauanträge bescheiden“ als Prozess mit einem Prozessteam, Messaging, assoziierten Wissensdokumenten und natürlich siloübergreifendem Zugriff auf die Vorgänge und Akten zu gestalten. Ich finde es durchaus positiv, für die größeren Prozesse Fachverfahren zu haben und daneben für die kleineren, unspezifischen Prozesse ein Universalwerkzeug wie DMS in Verbindung mit einem Workflowtool.

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  2. Hallo Frau Fischer, hallo André,
    ich finde, das ist ein gutes und sehr interessantes Thema für unsere Community of Practice „Digitalisierung und E-Akte“. Das nächste virtuelle Treffen findet am Mittwoch, 3. Juli, von 15-16 Uhr statt. Habt ihr Lust, euch dazuzuschalten? Dann müsstet ihr mir eure E-Mail-Adressen zukommen lassen (an wolf.steinbrecher[ät]agile-verwaltung.org) und ich schicke euch vorher den Einladungslink auf unsere Konferenzplattform.

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  3. Ich finde es wichtig, dass die Rolle Fachverfahren (FV) und DMS/E-Akten Systeme diskutiert wird. Ich arbeite in der Stadtverwaltung Plauen und wir bilden auf einem sehr nutzerfreundlichen, offenen DMS Fachvorgänge durch hinzufügen von Metadaten oder Objekten ab. ca. 40 Vorgänge haben wir bereits erstellt. In einer DA zur wirtschaftlichen Betrachtung ist definiert, welche Analysen vor einer Entscheidung erfolgen müssen, ob eine Abbildung im DMS oder als FV erfolgt.

    Eine längst überfällige Lösung der Silos wäre möglich, wenn es eine gesetzliche Verpflichtung für FV und DMS für Standardschnittstelle/n gäbe, so dass eine individuelle Kombination ohne großen Ressourcenverbrauch möglich wäre. Es kann nicht Aufgabe der Kommunalverwaltung sein, Schnittstellen zu definieren und den Herstellern zu finanzieren.

    Der Ansatz der Objekte sollte m.E. auch der Ausgangspunkt für die Beschreibung in den XÖV Standards sein, so dass ich Grunddaten z.B. Flurstück in allen Anwendungen mappen kann und lediglich aus der Sicht des Fachwesen, z.B. Baulasten, einen Eigenschaft hinzufüge oder in Beziehung setze. Somit könnten Silos aufgelöst werden ohne nicht standardisierte FV durch nicht standardisierte DMS Vorgänge abzulösen.

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    1. Hallo Frau Fischer

      vielen Dank für den Kommentar. Zunächst eine vielleicht freche Frage. Ist ihre DA zur wirtschaftlichen Betrachtung öffentlich? Ich finde, so etwas ist ein spannendes Dokument, welches vielleicht einen Artikel wert ist.

      Zum Thema XÖV: Ich habe vor vielen Jahren in XÖV Gremien gesessen und war damals desillusioniert. Jeder versuchte seine eigenen Vorstellungen in den XÖV-Standard einzubringen und dadurch wurden die XÖV Schnittstellen damals überspezifiziert und verwässert. Ich erinnere mich noch an die Zimmernummer in X-Finanz. Als IT-Anbieter gibt es wiederum das Problem, dass ganz oft gegen ein Dokument programmiert werden muss. Ob die Schnittstelle funktioniert oder nicht, weiß keiner. Was aber aus IT Sicht unabdingbar ist, wäre eine Referenzimplementierung und nicht nur eine Spezifikation.

      Ich finde, dass Thema XÖV gehört weiterentwickelt. Diese Standards könnten als Open Source in GitHub oder wo auch immer zur Verfügung stehen, so dass die erweiterte Community diese auch weiterentwickeln und nutzen kann. Das Geld, was in technisch gute XÖV-Standards investiert wird, würde sich mehrfach auszahlen.

      Ob ein Gesetz zur Nutzung der XÖV Standards sinnvoll wäre, weiß ich nicht. Vielleicht reicht es, diese bei der Ausschreibung als KO-Kriterium zu benennen und den Druck über Einkaufsgemeinschaften herzustellen. Aber erstmal müssen offene und richtig gute XÖV-Standards her.

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      1. So offen ist unsere Verwaltung noch nicht, auch interne Regelungen öffentlich zu stellen. Ich kann Ihnen aber gern Auszüge senden.
        KO Kriterium funktioniert leider nicht, da Software länger als 10 Jahre läuft und bis man etwas eingeführt hat, ist die Entwicklung mehrere Schritte weiter. Ihre Erfahrung zu XÖV kann ich Ihnen bestätigen, ich habe ! 2003 an XBau mitgewirkt – dies haben wir als Grundlage für die Bauakte im DMS genutzt – eine Nutzung für einen Austauch unter beteiligten Anwendungen, gibt es heut noch nicht.
        Ein erheblichen Schritt würden wir allerdings machen können, wenn Fachverfahren mindestens erstellte Dokumente inkl. ein paar Indexdaten an DMS übergeben müssten, dann hätten wir zumindest eine Basis, durchgängige Prozesse zu gestalten.
        PS: Verwaltungen sind nicht mit der Administration der E-Akte überfordert, sondern mit der Aktenführung auf elektronischer Basis ;-).

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  4. Hallo Wolf,

    vielen Dank für deinen Artikel zum Thema Fachverfahren. Ich habe diesen bereits vor einiger Zeit gelesen und habe zunächst gedacht. Ja, genau das sind die Fragen, die bei der Digitalisierung in der Verwaltung gestellt werden müssen. Wie kommen wir von diesen Fachverfahren weg und wäre die eAkte nicht der richtige Weg? Inhaltlich teile ich deine Auffassung, dass viele Fachverfahren durch eine eAkte und einen entsprechenden Workflow eliminiert werden könnten. Dennoch bleiben, bei allen Chancen, bei mir noch eine Reihe von Bedenken im Kopf hängen.

    a) DIe Fachverfahrenslizenz wird gespart, die Zugriffslizenz auf das DMS kommt dazu. Hier wird aus meiner Sicht nicht viel gespart.

    b) Aus der Bauordnung weiß ich, dass das Management der Beteiligungen insbesondere der behördenübergreifenden Beteiligung aufwändig ist. Hier wäre ein DMS-Workflow schnell am Ende. Also im Detail gibt es im fachlichen „Klein-Klein“ Knackpunkte, die oft nicht offenkundig sind.

    c) Es gibt DMS-Verfahren wie Sand am Meer. Ist es nicht gefährlich so viel fachliche Logik in ein Produkt zu binden. Ich bin beispielsweise ein Freund davon, das Workflow-System strikt vom DMS-Verfahren zu trennen.

    d) Ich habe festgestellt, dass viele Verwaltungen mit der Administration ihrer eAkte überfordert sind und je nach System auf Dienstleister angewiesen sind. Und letzteren fehlen die fachlichen Kompetenzen.

    Trotz allem, ein wunderbarer Artikel und ein sehr guter Impuls. Danke.

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