Bisweilen, wenn ich vom Forum Agile Verwaltung berichte, schlägt mir Skepsis entgegen. Teilweise unverhohlene – „Agilität in einer Verwaltung – das kann doch nie klappen“ -, manchmal wohlwollend und etwas schulterklopfend: „Übernimmst du sich da auch nicht? Bei den vielen Bürokraten in den Behörden …“
Ein Anlass, sich dem Thema ernsthaft zu stellen: Kann Agilität an „den Menschen“ scheitern? Unterscheiden sich Beamte und Beschäftigte im Öffentlichen Dienst, quasi charakterlich, von den agilen Hüpfern in den Startups und Softwareschmieden?
Gibt es so etwas wie eine Beamtenpersönlichkeit?
Ich will die Frage aus drei Richtungen einkreisen. Heute erst ganz grundsätzlich: Gibt es überhaupt so etwas wie eine „feststehende Persönlichkeit“ eines Menschen – so etwas wie „den geborenen Bürokraten“ oder „den kreativen Softwareentwickler“?
Menschen im Urteil
Was ist denn das für einer? Wie tickt die denn?
Solche Fragen stellen wir uns, wenn wir einem neuen Menschen begegnen, und fällen ein Urteil, oft in weniger als einer Sekunde: sympathisch, linkisch, aufdringlich. Ein echter Langweiler, der. Zickig, die.
Auch nach dem ersten Kennenlernen geht die Beurteilerei weiter. So sind wir es gewohnt und stützen mannigfache Entscheidungen und Handlungen darauf. Wir formulieren unsere Urteile über andere Menschen gewohnheitsmäßig in der Form
„Der ist ein X“,
also als Zuschreibung von Eigenschaften. Das scheint bequem, weil es uns vermeintlich erlaubt, das Verhalten anderer Menschen in der Zukunft vorauszusagen: aus seinen Eigenschaften schließen wir, was wir in Zukunft von ihm zu erwarten haben. Das macht unsere eigene Zukunft ein bisschen sicherer.
Gegenbeispiele
Jetzt aber mehren sich die Anzeichen, dass es sich dabei um eine große Illusion handeln könnte. Das menschliche Verhalten, darauf deuten neuere Befunde aus der Hirnforschung hin, sind in größerem Maße situationsbedingt, als wir es bislang wahrhaben wollen. /2/
Auch vor der Hirnforschung gab es Hinweise. Personalchefs können ein Lied davon singen. Ein Bewerber hat sich im Vorstellungsgespräch hervorragend präsentiert, aber an seinem Arbeitsplatz erweist er sich als Enttäuschung. Warum? Ganz einfach. Die Situation ist eine andere. /1/
Bill Clinton hatte seine Frau belogen, als es um eine andere Frau ging. Die politische Gegenpartei im Abgeordnetenhaus interpretierte das als persönliche Eigenschaft: „Er ist ein Lügner.“ War das gerechtfertigt? War Clinton auch in seinem Job als Präsident jemand, der z. B. Haushaltsdaten fälscht oder zur Korruption neigt?
Bekannt wurde das sog. Milgram-Experiment aus den 60er Jahren. Dabei wurde untersucht, ob Versuchspersonen dazu verleitet werden könnten, auf Anweisung eines wildfremden „Versuchsleiters“ ebenso wildfremde andere Menschen zu foltern. Das Ergebnis war erschreckend: Nicht nur, weil 65 Prozent der Probanden sich als willige Folterknechte entpuppten. Sondern weil diese Bereitschaft mit keinerlei „Charaktereigenschaft“ der Probanden korrelierte. Es war schlicht nicht vorhersehbar, wer zu den 65% und wer zu den 35% der Folterverweigerer gehören würde. Die Versuchssituation erwies sich als stärker als jeder „Charakter“ (mehr lesen zum Milgram-Experiment).
„So etwas wie eine Persönlichkeit haben wir Menschen nicht“
Der Hirnforscher Niels Birbaumer spricht von einer „in alle Richtungen offene(n) Plastizität des Gehirns“ /3/. Wenn eine Situation für uns ganz neu ist und unser Gehirn noch keine Verhaltensstrategie entwickeln konnte, dann ist unser Verhalten fast nicht voraussehbar. Das ist die Lehre des Milgram-Experiments.
Birbaumer formuliert das etwas provokativ ganz grundsätzlich: „Wir haben kein ‚Wesen‘ und auch keinen unveränderlichen Charakter, der uns durchs Leben führt. Es ist vielmehr so, dass wir in bestimmter Weise funktionieren und uns dabei beobachten können. (…) Wer aus seinem Funktionieren in bestimmten Situationen den Schluss zieht, dass eben diese Handlungsweise zu seinem persönlichen Wesen gehört, der irrt. Stattdessen spielen äußere Umstände und Zufälle in unserem Leben eine viel größere Rolle, al wir glauben wollen.“ /4/
Oft scheint uns das Verhalten anderer Menschen prognostizierbar. Aber das liegt einfach daran, dass es sich um gewohnte, sich wiederholende Situationen handelt. Dann haben sich in unserem Gehirn schon Verschaltungen gebildet, die bestimmte Verhaltenspfade vorbahnen. Aber auch diese Verhaltensmuster können wieder „überschrieben“ werden. Der Mensch kann sich ändern, wenn sich die Situationen langfristig ändern. Das ist der frohe Teil der Botschaft.
Wenn wir (z. B. in Verwaltungen) auf Menschen stoßen, die Veränderungen grundsätzlich eher vorsichtig und skeptisch entgegentreten statt neugierig und hoffnungsfroh, dann lautet die Frage nicht mehr: „Was sind denn das für welche?“, sondern eher: „Welche Erfahrungen haben sie so werden lassen?“ Oder genauer: „Welche Situationen bestärken sie in diesen Erfahrungen immer wieder, statt sie durch neue Erfahrungen zu überschreiben?“
Diesem Thema will ich mich im nächsten Artikel widmen. /5/
Anmerkungen
/1/ Siehe dazu das Kapitel „Most Likely to Succeed“, in Malcolm Gladwell: What the Dog Saw and Other Adventures, 2009, ISBN 978-0-316-07620-3 (Paperback-Ausgabe), S. 314-335. – In einem weiteren Kapitel im gleichen Buch, “Dangerous Minds”, weist Gladwell auf die mangelnden Erfolge des Profiling bei der Verbrechersuche hin, das ebenfalls auf der Theorie einer konsistenten Persönlichkeit eines Straftäters beruht.
/2/ Niels Birbaumer: Dein Gehirn weiß mehr, als du denkst. Neueste Erkenntnisse aus der Hirnforschung. Ullstein Verlag, Mai 2015, 269 Seiten, ISBN 978-3-548-37594-6.
/3/ das., Seite 29
/4/ das., Seite 25. Siehe auch das „Resümée“ auf S. 33.
/5/ Zu guter Letzt noch ein Blick in die Philosophiegeschichte. Nicht alle Erkenntnisse der Hirnforschung können nur mit ihren modernen Scanmethoden gefunden werden. Zweifel an der Vorstellung der „menschlichen Persönlichkeit“ gab es auch schon vor ihr. „Es scheint zunächst so, als ob man einen Menschen nach den Hauptzügen seines Lebens beurteilen könnte; da nun aber, unserer Natur nach, Sitten und Meinungen unbeständig sind, habe ich immer wieder den Eindruck gewonnen, dass es verkehrt ist, sich darauf zu versteifen (…), aus uns ein einheitliches und fest zusammenhaltendes Gewebe herstellen zu wollen. Zuerst wird ein Bild des Gesamtwesens konstruiert; dann werden alle Einzelhandlungen einer Persönlichkeit in dieses Gesamtbild eingeordnet und in seinem Sinne ausgelegt …
Gestern war er so waghalsig; ihr habt es mit angesehen, ihr dürft es nicht erstaunlich finden, wenn ihr am nächsten Tag mit ansehen müsst, dass er nun ebenso feig sich benimmt; entweder der Zorn oder die Not oder die Kameraden oder der Wein oder das Trompetengeschmetter hatten ihn beherzt gemacht; nicht infolge vernünftiger Überlegung wurde sein Herz von Mut ergriffen, nein die Umstände haben sich eben gewandelt.“ (Michel de Montaigne, Essais, 1587)
Ein Gedanke zu „Muss Agilität nicht überhaupt scheitern – an den Mitarbeitern?“