Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum – Was ist wie wirklich? Ponyhof oder echte Welt?

Die Frage, was den Reiz oder den Sinn ausmacht, sich mit agilen Themen zu beschäftigen, stelle ich mir immer wieder. Andere stellen sie mir auch. Manchmal werden wir als Träumer oder Gutmenschen bezeichnet, als welt- und realitätsfremd.

Letzthin sind mir zwei Sätze begegnet, die einen Aspekt des Reizes von agilem Vorgehen beschreiben helfen könnten:

„Ab Sommer könnten einige Bundesländer die Anwesenheitspflicht [für Studierende] wieder einführen. Der Erfolg für echte Bildung? Oder eine reine Simulation von Ordnung?“[1]

„Menschen haben ein tief verwurzeltes Bedürfnis nach Harmonie, leider begegnen sie dann der real existierenden Welt. Und die entspricht überhaupt nicht diesen Idealen.[2]

Im realen Arbeitsalltag begegnen uns derzeit ständig Situationen, die nicht (oder nicht mehr?) unserem erlernten Verständnis der Situation entsprechen. Es gibt viele Beispiele für solche Momente:

3 Dinge, von denen wir wünschten, sie wären wahr…

  • Der Auftraggeber weiss, wass er will.
  • Der Realisierer weiss, wie es zu tun ist
  • Nichts ändert sich im Projektverlauf[3]

Dennoch stellen wir allzu oft fest, dass diese Wünsche nur in der – hartnäckig gelehrten und gelernten – Theorie zutreffen:

3 Dinge, mit denen wir leben müssen….

  • Der Auftraggeber entdeckt erst im Projektverlauf genauer, was er wirklich benötigt – denn er versteht den Weg und die Zusammenhänge im Zeitverlauf zunehmend besser, die Ziele klären und konkretisieren sich zunehmend.
  • Der Realisierer entdeckt Schritt für Schritt immer mehr, welche Optionen es gibt, um die Sachlage möglichst adäquat zu lösen – denn er lernt mit jedem Schritt dazu und kann die Umstände immer besser einschätzen.
  • Vieles ändert sich im Projektverlauf – denn die Welt dreht sich außerhalb des Projektes unbeirrt weiter und hat das Potential, auf Ziele und Verlauf Einfluss zu nehmen – wenn das auch planungstechnisch eher störend und unangenehm sein kann, ist es doch eine Tatsache.

Als Reaktion darauf  berufen wir uns dann oft auf erlernte Theorie oder auf geregelte Abläufe – Projektstrukturpläne, etablierte Prozessstandards etc. . Selbst wenn die zwar nicht genau dem entsprechen, was da vor uns liegt. Die uns aber die Sicherheit und Rechtfertigung geben, sicher nichts falsch gemacht zu haben. Denn wir haben uns ja an Fachstandards und Vorgaben gehalten.

These: Die Generationen der heute 40-jährigen und alle Älteren – das heisst, die heute im öffentlichen Leben kulturprägenden Jahrgänge – sind in einer Zeit und von Personen sozialisiert worden, die im Nachhall der Nachkriegszeit und in den Jahrzehnten des Wirtschaftswunders eine zentrale und sehr erfolgreiche  Erfahrung hervorgebracht haben:

Planung, solide standardisierte Prozesse, Stabilität, Nachvollziehbarkeit und bekannte Erfolgsrezepte wie nachgewiesene Fachlichkeit („best practice“-Logiken) sind ein Garant für Erfolg, stetiges Wachstum und Wohlstand.

Das hat lange so gestimmt. Und darauf baut in vielen Bereichen das aktuelle Wirtschaftsleben und die auch die öffentliche Verwaltung immer noch auf. Bewusst oder instinktiv.

Die obige Zustandsbeschreibung in einer zunehmend komplexen, schnell wechselnden und zugleich unsicherer werdenden Umwelt ist nicht mehr ’speziell‘ und ’nur ausnahmsweise‘. Nicht stabile, nicht vorher bekannte Anforderungen, in der neue Formen und Formate der Problemlösung erforderlich sind, haben in der aktuellen Managementdiskussion, weil sie zunehmend unsere Arbeit prägen, gar schon einen eigenen Namen erhalten. Solche Situationen und Umwelten werden mit dem Akronym „VUCA“ beschrieben. Es steht für volatility (=Instabilität), uncertainty (=Unsicherheit), complexity (=Komplexität), ambiguity (=Mehrfachlesbarkeit). (Bennett und Lemoin 2014, S. 311f.)

Also: „Ab Sommer könnten einige Bundesländer die Anwesenheitspflicht [für Studierende] wieder einführen. Der Erfolg für echte Bildung? Oder eine reine Simulation von Ordnung?“

„Menschen haben ein tief verwurzeltes Bedürfnis nach Harmonie, leider begegnen sie dann der real existierenden Welt. Und die entspricht überhaupt nicht diesen Idealen.“

Wie virtuell ist unser erlerntes Vorgehen heute angesichts von VUCA-Umwelten?
Wie stark sind wir im Arbeitsalltag auf der Suche nach „Simulationen von Ordnung“?
Wie viel Aufwand stecken wir in den Versuch, uns an idealtypischer Planung und „schon mal erfolgreich gewesenen“ Vorgehensweisen festzuhalten?
Damit uns die Realität nicht überrollt, damit wir nicht dem Risiko gegenüberzustehen, nicht schon vorher zu wissen, wie wir vorgehen sollen. Weil es kein Modell gibt, keine Vorschrift… . Und es könnte im aktuellen Verständnis als unprofessionell daherkommen, die Antwort nicht schon am Anfang parat zu haben.

Ein Beispiel ist die gesamtgesellschaftliche Diskussion zum Umgang mit den alltagsbestimmenden neuen Medien in Schulen. Smartphones? Stören den Ablauf des bekannten Schulalltags. Also: Zunächst verbieten, den bekannten Status Quo sichern. Egal, wie weit das der real existierenden Welt, in der Schülerinnen und Schüler und ihre Lehrerinnen und Lehrer sich – ausserhalb der Schule – bewegen, entspricht. Souveräner Umgang mit einem noch realtiv neuen Phänomen oder Simulation von Ordnung?

Agile Prinzipien mit dem Anspruch:
Nahe an der aktuellen Realität. Praxisnah und anpassungsbereit

Agil heisst unter anderem: sich in kurzen Rhythmen organisieren, ausprobieren, anschauen und anpassen, nah an realen Personen und Möglichkeiten auf ein Ziel hin handeln, das sich nach und nach schärft, und dies jederzeit der tatsächlichen Situation mit allen ihren Veränderungen möglichst nahe und angemessen — deshalb agil eben.

Ein Reiz dabei steckt für mich darin, dass agiles Vorgehen mich immer wieder dazu bringt, mich mit der realen Situation auseinanderzusetzen. Passt das, was und wie ich es tue zur realen Situation? Berufe ich mich auf Dinge, von denen ich wünsche, dass sie wahr wären, damit meine Theorien, Standards und erlernten Vorgehensweisen passen oder schärfe ich meine Handlungsmöglichkeiten entlang der vorhandenen Ressourcen und Erkenntnisse? Oder, als bekennender Star-Trek-Fan ausgedrückt:

„To explore strange new worlds, to seek out new life and new civilizations, to boldly go where no one has gone before.”

LLAP

 

—————————-

[1] http://www.zeit.de/2018/02/anwesenheitspflicht-studenten-vorlesungen-universitaet-pro-contra

[2] Frank Berzbach „Kreativität aushalten / Psychologie für Designer“ Verlag Hermann Schmidt, ISBN 978-3-87439-786-5, Seite 70

[3] https://www.rolandgareis.com/wp-content/uploads/20160127_Mahringer_Agile-oBU.pdf

Autor: Veronika Lévesque

Veronika Lévesque ist beim Institut für Arbeitsforschung und Organistionberatung iafob in Zürich (CH) Organisationsentwicklerin. Und Projektmensch mit einer Vorliebe für Fragen, für die es noch keine fertige Antwort gibt. Begeisterte Grenzgängerin: Unterwegs in 4 Ländern, 3 Sprachen und am liebsten in den Zwischenräumen zwischen Disziplinen. Schwerpunkte: Nutzbarmachung von Übergängen und Transformationshebammerei, Organisations- und Entwicklungshandwerk (Manufaktur, nicht von der Stange), Agile Spielfelder in nicht-agilen Umwelten, Methodenentwicklung, Umgang mit Nicht-Planbarem, Bildungssysteme vs. nicht-formale Bildungswege und 'Fehler machen schlauer.’

2 Kommentare zu „Realitäts-Virtualitäts-Kontinuum – Was ist wie wirklich? Ponyhof oder echte Welt?“

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