Alle klagen ja über die große Distanz bei diesen unumgänglichen Videokonferenzen. „Die Kaffeeküche fehlt.“ – „Wo bleiben die Klönschnacks auf dem Flur?“
Na ja. Auch bei diesen Präsenzmeetings – 1000 Jahre her – war nicht alles so rosig. Da gab es auch „Distanz“ – aber andere Arten von Distanz. Und die kann man jetzt auf den Videokonferenz-Plattformen teilweise leichter überwinden als vorher: Man muss sich nur der Möglichkeiten unserer neuen digitalen Tools bewusster werden.
Beziehungsebene in Meetings
Wenn man sich die vielen vielen Ratschlagsseiten im Internet zum Thema „Meetingkultur“ anschaut, so geht es bei den allermeisten um die „Sachebene“. Themen wie
- „Das Meeting hat ein klares Ziel.“
- „Jeder kann ausreden, niemand wird unterbrochen.“
- „Es sind nur Menschen anwesend, die wirklich für das Meeting gebraucht werden.“
- „Bei uns gilt: ‚Handys aus!‘ Niemand tippt während des Meetings auf seinem Smartphone herum.“
- … und weitere 30 Tipps dieser Art.
Das sind alles Themen, die ein bisschen blutleer anmuten. Das Meeting wird wie eine Maschine betrachtet, die „wie geschmiert“ funktionieren soll. Und wenn sie es nicht tut, muss man ein bisschen Öl hinzufügen oder Sand aus dem Getriebe entfernen.
Es ist, als ob der Blick nur auf die Spitze des Eisbergs gerichtet ist, und alles unterhalb der Wasserlinie erscheint perspektivisch verkürzt und merkwürdig verschwommen.

Ich habe mir jetzt zwei Thesen überlegt (Widerspruch welcome!). Die erste lautet:
Ob Meetings „gut“ sind oder nicht, hängt zu 70% von der Beziehungsebene und zu 30% von der Sachebene ab.
Unter Beziehungsebene verstehe ich nicht einfach „Nähe“ oder gar „Intimität“. Es gibt Beziehungen, die relativ distanziert sind – die sich auf einer rein professionellen Ebene bewegen – in denen vielleicht sogar Ungleichheit herrscht (Trainer – Teilnehmer, Dozent – Student, Vorgesetzter – Untergebener, Arzt – Patient) – bei denen aber trotzdem auf einer gewissen Ebene weitestgehende Gleichheit herrscht. Ein großes Wohlgefühl im Miteinander stelle sich ein. Eine Resonanz über die unüberwindliche Entfernung. Bei Wissenschaftlern, die sich nicht dem Konkurrenzdenken beugen, gibt es so etwas. Die Kooperation in Poesie und Philosophie von Goethe und Schiller stelle ich mir so vor. (Die von Brecht und seinen Geliebten Mitautorinnen eher nicht.)

So weit, so (un)klar.
Beispiele für Themen auf der Beziehungsebene sind für mich:
- Geht es mir gut? Geht es den anderen gut? Geht es uns gut?
- Fühle ich mich eingeladen? Das heißt, geht der Andere oder gehen die Anderen empathisch mit mir um? Interessiert sie z.B. meine Meinung, auch wenn sie sie für abartig halten?
- Fühle ich mich einbezogen? Kann ich an Entscheidungen mitwirken?
- Kann ich mich äußern im Meeting? Oder bin oder werde ich „gehemmt“?
Diese Art von Faktoren spielt eine viel größere Rolle in Meetings als die Frage, ob Leute auf ihrem handy daddeln.
Wie können wir die Beziehungsebene verbessern?
Jetzt kommt meine zweite These:
Wenn wir die Beziehungsebene verbessern wollen, müssen wir nicht am Verhalten der Beteiligten ansetzen („Werte“ verkünden), sondern an den Abläufen der Meetings, die bestimmte Verhaltens-weisen fördern oder bremsen.
Das möchte ich an einem Beispiel erläutern.
Es gibt Menschen, die in Meetings gar nicht an sich halten können vor Eloquenz. Auch wenn sich die Teilnehmer der Runde relativ fremd sind (also nicht ein Jour fixe meines Sachgebiets, sondern eine erste Projektsitzung mit 12 Teilnehmern aus 5 Fachbereichen), können diese Leute hemmungsfrei sprechen.
Daneben gibt es andere, die das eher nicht tun. Entweder weil sie länger abwägen. Franz will etwas Kritisches sagen zu dem, was Fritz gerade gesagt hat. „Aber stimmt das auch wirklich, was ich sagen will? Hat er nicht doch ein bisschen mehr recht, als ich zugeben will? Was wäre denn eine abgewogene Position?“ – Und schwupp! – ist die Diskussion schon weiter und Franz hält lieber gleich den Mund.
Und es gibt natürlich noch viele andere Gründe, sich zurückzuhalten. „Veronika hat mich schon zweimal kritisch angeguckt heute. Bestimmt wird sie das wieder für völligen Blödsinn halten und mir in die Parade halten. Nö, lieber nicht.“ Und so weiter.
Ich habe mal in einer Führungskräfterunde eine Strichliste geführt. Ich war als externer Berater dabei, bei dem Thema des Meetings aber völlig inkompetent und wählte deshalb das beredte (und bezahlte) Schweigen. Und um mich irgendwie zu beschäftigen, habe ich bei jedem Punkt der Agenda das Namenskürzel von jedem Teilnehmer hingeschrieben, der irgendetwas sagte.
Am Schluss hatten von 12 Teilnehmern (außer mir, ich war der verräterische 12. Apostel)
- 3 Teilnehmer dauernd gesprochen
- weitere 4 in unterschiedlichem Maße ab und zu einen Satz gesagt
- 5 sich praktisch nie geäußert (also außer ab und zu mal „sehe ich auch so“ sagen).
5 von 12 hatten rund vier Stunden in einem Meeting hochbezahlter Spezialisten gesessen und sich nicht beteiligt! Und zwar nicht, weil sie nichts zu sagen gehabt hätten oder weil ihre Meinung, ihre jeweils spezielle Sichtweise nichts hätte zum Ergebnis beitragen können. Sondern weil es in dieser Runde eine ungleiche Vermögensverteilung gab (Redevermögen, zum Teil auch hierarchische Macht), die die Entfaltung einer Schwarmintelligenz verhinderte.
Jetzt kommen die Webkonferenzen mit Möglichkeiten, die es in Präsenzmeetings definitiv nicht gibt: das sind die Gruppenräume, die „Break-out-Rooms“. Es ist überhaupt kein Problem, ein Meeting von 12 oder 16 Teilnehmern in Minutenschnelle in 2er- oder 3er-Gruppen aufzuteilen und jeder Gruppe „ihren“ Teamraum zur Verfügung zu stellen mit eigenem Whiteboard. Und einen Agendapunkt erst einmal eine kurze Zeit (je nach Komplexität des Themas 5 bis 15 Minuten) in der Kleingruppe diskutieren zu lassen und dann mit den Ergebnissen wieder ins Plenum zurückzukehren.
Im Plenum werden dann die Ergebnisse zusammengetragen, und sie sind immer bunter und reichhaltiger als in herkömmlichen Runden um ein Tisch-U. (Oft erleichtere ich als Moderator das Zusammenstellen der Ergebnisse, indem ich zwischen Kleingruppen und Plenum noch eine Stufe schalte, bei der immer zwei Kleingruppen in einen Raum gehen und sich dort ihre Ergebnisse präsentieren. Oder ich starte eine Mentimeter-Abfrage, bei der die Kleingruppen ihre Resultate für alle im Plenum schnell sichtbar in den virtuellen Raum stellen können.)
Das wäre bei einem Präsenzmeeting fast nicht möglich, weil die Kleingruppen entweder im gleichen Raum bleiben und sich gegenseitig akustisch stören. Oder weil das Aufsuchen von Nebenräumen sehr zeitaufwendig ist. Außerdem kann ich in Webkonferenzen – ein gutes Tool vorausgesetzt – die Teilnehmer auch zufällig oder sogar von mir gesteuert auf die Räume verteilen, so dass ich z. B. die Eloquenten gemeinsam in eine Gruppe schicke. So behindern sie die anderen nicht.
Fazit
Bei bestimmten störenden Phänomenen auf der Beziehungsebene in Meetings gibt uns die Digitalisierung technische Unterstützung bei gezielten Interventionen, um die Störeffekte zu verringern. Wir appellieren nicht an die Personen, sie möchten doch bitte ihre Haltung ändern, also – um im Beispiel zu bleiben – doch auch alle anderen zu Wort kommen zu lassen. Wir verabschieden kein Führungsleitbild, nach dem Führungskräfte ihren Mitarbeitern achtsam begegnen. Sondern wir versuchen, in der Tat Lernfelder zu schaffen, in denen den Beteiligten neue Erfahrungen möglich werden. Und vielleicht führt das mit der Zeit auch zu Änderungen in der Haltung auf beiden Polen der „Vermögensverteilung“.
All dies habe ich von Heinz Bayer gelernt, bei einem kürzlichen Telefonat. Aber ich hab’s aufgeschrieben. Und das ist ja auch was.
Gut, dass es hier keine Vorgesetztinnen und Untertaninnen gibt, bei den herrscht immer Augenhöhe
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Gut, dass es keine Vorgesetztinnen und Untertaninnen gibt, bei den herrscht immer Augenhöhe
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Ich gucke nicht kritisch… ich hab so ein Gesicht – Geburtsfehler…
Gez. Veronika 🥴
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