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Dass irgendwann eine globale Pandemie kommen würde, war unter Fachleuten unumstritten. Schon 2012 lagen dem Deutschen Bundestag dazu Warnungen vor. Aber diese Vorausschau hatte keine Wirkung. In der Öffentlichkeit wurde darüber nicht gesprochen, und in der Folge fand keine Vorsorge statt. Daseinsvorsorge ist aber die Aufgabe der öffentlichen Verwaltung.
Jetzt droht die Gefahr, dass gerade durch die Pandemie andere grundlegende Risiken aus der öffentlichen Diskussion verdrängt werden und uns auf einmal disruptive oder gar katastrophale Ereignisse erneut unvorbereitet überraschen. Grund genug für Agilisten, sich mit diesen „Megatrends“ zu beschäftigen.
Definition
Megatrends stellen den Versuch dar, in der unübersichtlichen Welt globaler Entwicklungen doch so etwas wie Muster zu erkennen. In Wikipedia wird der Begriff wie folgt beschrieben:
„Der US-amerikanische Zukunftsforscher John Naisbitt prägte den Begriff Megatrend. Dieser beschreibt lang anhaltende gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Veränderungen, die zahlreiche Lebensbereiche (u. a. Arbeitswelt, Konsum- und Freizeitverhalten, Gesundheit, Bildung, kulturelle Identität und politische Teilhabe) massiv beeinflussen. Megatrends verändern das Leben aller Menschen weltweit, wirken in verschiedenen Regionen und Gruppen aber unterschiedlich, zeitlich versetzt und keineswegs immer stetig voranschreitend. Sie stehen miteinander in Wechselwirkung. Beispiele sind die Globalisierung, die Digitalisierung und der demografische Wandel.“ (Anmerkung 1)
Megatrends und Sicherheit
Die Beschäftigung mit Megatrends entspringen dem Streben nach Sicherheit. Gibt es nicht doch so etwas wie Konstanten, an denen man sich festhalten kann in all dem Durcheinander? Das ist so ähnlich wie die Plattentektonik und die Gefahr von Erdbeben in der Geologie. Erdbeben waren früher völlig unvorhersehbare plötzliche Ereignisse. Dann entdeckte man, dass den meisten Erdbeben Verschiebungen in der Erdkruste zugrunde lagen: die Kontinentalplatten verschoben sich, bauten gegeneinander Druck auf, der sich unregelmäßig disruptiv entlud.
Diese Kenntnis von unterirdischen „Megatrends“ (afrikanische Platte drückt gegen die eurasische usw.) gibt uns keine vollständige Sicherheit. Wir können Erdbeben nach wie vor nicht genau vorhersagen. Aber allein die Vorstellung, dass es rationale Ursachen für Erdbeben gibt (und nicht nur böse Götter), beruhigt uns ein Stück weit. Und außerdem stärkt die Erkenntnis unsere Aufmerksamkeit: Wir lernen, Frühwarnsysteme aufzubauen, um zumindest ein wenig früher als vorher ein drohendes Beben zu erkennen.

Wie stellen wir fest, was ein Megatrend ist?
So etwas Ähnliches versuchen Zukunftsforscher jetzt auch bei sozialen Trends. Aber – und das unterscheidet die Gesellschaft von der Geologie – es gibt keine einheitlich anerkannten Methoden, um Megatrends zu identifizieren und gar irgendwie zu quantifizieren.
Schauen wir nochmal in Wikipedia nach: „Zur Feststellung von Trends gibt es spezielle Methoden, wie die Delphi-Methode (Befragung herausragender Fachleute) oder Prognoseverfahren und Verfahren der Futurologie. Hinzu kommen Methoden, die die aktuellen Trendströmungen in den Metropolen der Welt erfassen und aus diesen Erkenntnissen die kommenden Trends ableiten, zum Beispiel durch die Ethnografie.“ (Anmerkung 2)
Mhm. Klingt ein bisschen schwanzbeißig, oder? Fachleute befragen Fachleute, um Trends festzustellen? Oder sie machen eine Prognose, und daraus erkennen sie die Zukunftstrends besser. Aber woher kommt die (Zukunfts-)Prognose?
Megatrends und Handlungsinteresse
Ich habe die Vermutung, dass die Identifikation von Megatrends in der Zukunftsforschung oder in Medien immer auch einem Handlungsinteresse entsprechen und damit teilweise subjektiv konnotiert sind. Die Blickrichtung ist bei Zukunftsforschern sehr unterschiedlich.
Das Institut des Zukunftsforschers Matthias Horx zum Beispiel teilt mit, es habe 12 Megatrends festgestellt:

Auffällig ist, dass zum Beispiel der Begriff „Digitalisierung“ fehlt. Aber, so klärt uns das Zukunftsinstitut auf, dafür finde man das Wort „Konnektivität“ sprechender, also das Streben von Menschen, mit immer mehr und weit entfernten Menschen verbunden zu sein.
Mag sein. Auch dass der Klimawandel umgetauft wird in „Neo-Ökologie“, kann man noch hinnehmen. Aber bestimmte Themen fehlen völlig, die für die öffentliche Verwaltung wichtig sind. Auf der Gründungsversammlung des Forums Agile Verwaltung am 11.02.2016 hatten wir unter anderem folgende Themen gesammelt, die in der Liste des Zukunftsinstituts nicht auftauchen:
- Schere zwischen arm und reich öffnet sich weiter.
- Zunehmender (Rechts- und Links-)Extremismus und -terrorismus.
- Finanzausstattung wird schlechter – der Kostendruck nimmt zu.
- Bürger fordern Einbeziehung – Forderung der Einwohner nach Transparenz von Verwaltungsprozessen
- Zunehmende funktionale Spezialisierung bringt Notwendigkeit zur silo-übergreifenden Zusammenarbeit (Anmerkung 4).
Diese Liste hat sich in den letzten fünf Jahren noch erweitert. Ich habe mich in den letzten Wochen in meinem persönlichen Umfeld – unter Freunden, Bekannten, Kollegen – umgehört und ihnen jeweils die Frage gestellt:
„Wenn du der Oberbürgermeister/Landrat von {Wohnort bzw. Landkreis des Angesprochenen} wärst – mit welchen Megatrends sollte er sich auseinandersetzen, um für die Einwohner seiner Stadt/seines Kreises eine bestmögliche, nachhaltige, zukunftsgerichtete Daseinsvorsorge betreiben zu können?“
Dabei kamen unter anderen folgende Antworten:
- Forderung der Öffentlichkeit nach einer zivileren, weniger diskriminierenden Gesellschaft (z. B. gegen Sexismus, Black Lives Matter usw.)
- Individualisierung; Verlust traditioneller „Korsetts“ (Vereine, Kirchen, Gewerkschaften)
- zunehmend deregulierte und quasi entfesselte Finanzmärkte; Gefahr neuer Blasen?
- Segmentierung der Öffentlichkeit; Bildung von kommunikativen Echoräumen
Warum kommen diese und ähnliche Trends beim Zukunftsinstitut nicht vor?
Ich vermute, dass es an der privatwirtschaftlichen Sichtweise liegt. Matthias Horx will mit seinem Institut vor allem Unternehmen bei der Marktprognose unterstützen, also bei Konsumtrends. Das ist von mir nicht als Kritik gemeint. Das ist einfach seitens des Instituts eine Konzentration ihrer Kräfte auf den eigenen Nutzen.
Das heißt aber auch, dass wir in den Verwaltungen uns unsere eigenen Gedanken machen müssen. Wir können die für unsere Aufgabenerfüllung relevanten Trends nicht einfach von anderen übernehmen (obwohl wir sicher von Zukunftsforschern wie Horx eine Menge lernen können).
Auf unserem geplanten Barcamp „New Work in der öffentlichen Verwaltung 2023/2033“ am 2. März 2021 wird das auch ein wichtiges Thema sein.
Wir suchen gerade nach Experten, die uns dabei unterstützen. (Kennst du einen solchen, lieber Leser? Oder siehst du noch einen anderen Megatrend, der für die Verwaltung wichtig wäre? Dann schreib uns doch bitte.)
Anmerkungen
/1/ Wikipedia Stichwort: „Trend_(Soziologie)“, Abschnitt Megatrend, abgerufen am 03.01.2021
/2/ (Methoden_der_Trendforschung Wikipedia „Trend_(Soziologie)“, Abschnitt Methoden der Trendforschung, abgerufen am 03.01.2021
/3/ siehe https://www.zukunftsinstitut.de/artikel/mtglossar/, abgerufen am 13.01.2021
/4/ https://agile-verwaltung.org/2016/03/13/auf-welche-trends-muss-sich-die-verwaltung-in-den-naechsten-jahren-einstellen-ergebnisse-des-gruendungsworkshops-am-11-februar-2016/
Man könnte es sich leicht machen und die Frage nach Megatrends gemäß des Diktums, wonach Prognosen schwierig seien, besonders wenn sie die Zukunft betreffen, in den Bereich Spökenkiekerei verweisen; ein netter Partytalk also, aber nicht wirklich nützlich.
John Naisbitt, der den Begriff prägte, definiert allerdings: „Megatrends (…sind) umfangreiche soziale, ökonomische, politische und technologische Veränderungen, die uns über längere Zeiträume, sieben, zehn oder viele Jahre hinweg beschäftigen.“ Nicht genannt, aber immanent mitschwingend ist der Aspekt des Zukünftigen, Visionären. Ein Megatrend, der zur Ruhe gekommen ist, würde wohl eher unter dem Epochenbegriff diskutiert werden.
Wenn ein Megatrend also ein erkennbarer, sich abzeichnender oder bereits in Entwicklung befindlicher Veränderungsprozess ist, der eine gesellschaftliche Bedeutung hat und diese noch viele Jahre beschäftigen wird, dann ist er weit jenseits der Spökenkiekerei. Denn demokratische Willensbildungs-, Entscheidungs- und Gestaltungsprozesse brauchen Zeit, viel Zeit, je pluralistischer die Gesellschaft ist, noch mehr Zeit. Es macht daher absolut Sinn, das Ohr auf die Schiene zu legen und zu horchen, ob und was auf uns zukommt. Wenn wenigstens visionäre Vorstellungen über zukünftige Themen- und Problemstellungen bestehen, kann man sich schon frühzeitig auf die Reise zu begeben, kann man agieren und gestalten. Anderenfalls bleibt nur, dem Faktischen hinterher zu laufen; kann man nur noch reagieren oder reparieren.
Bei dem, was Horx, selbsternannter Zukunftsforscher, als Megatrends ausgemacht hat, handelt es sich allerdings durchweg um hinlänglich bekannte Themen, man könnte sogar pointiert sagen, alte Kamellen. Manches, beispielsweise Gesundheit, Gender Shift oder Silver Society, ist sogar schon Gegenstand kommunaler Managementportfolios. Anderes wie New Work geht sogar mehrere Dekaden zurück (Frithjof Bergmann, 1980er Jahre), so dass sogar manche der darauf fußenden Weiterentwicklungen nicht wirklich zukünftige Megatrends darstellen. Das entwertet die Themen nicht, sie stellen nur keine (zukünftigen) Megatrends dar.
Viele der anderen im Artikel als Megatrends ausgemachten Themen sind entweder Abwehrhaltungen gegenüber etwas, was als Fehlentwicklung gegenüber einer idealen Gesellschaft empfunden wird – Extremismus, Terrorismus, etc. – oder Vollendungsvorstellungen gesellschaftlicher Ideale – Gleichstellung, Antirassismus, etc. Ebenfalls wichtige Themen, aber nicht wirklich Visionär, nicht Megatrend.
Umso wichtiger ist das Fazit des Blog-Beitrags, nämlich dass wir uns als Gesellschaft, besonders aber in den Verwaltungen (weil das hier nun einmal das Forum Agile Verwaltung ist 🙂 ) eigenen Gedanken machen müssen.
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Lieber Peter,
finde ich fast alles richtig. Insbesondere die Verknüpfung von Megatrends mit dem Visionären gefällt mir gut. Dafür beschäftigen wir uns damit, damit ein Mindestmaß an visonärer Energie auch wieder in die Vewaltungen fließt – jenseits des Immer-Weiter-So.
Wo ich dir widerspreche, ist die Abqualifizierung z.B. des Megatrends „Zunahme des Extremismus“ als Nicht-Megatrend-würdig, quasi Minitrendchen. Schön wär’s. Wilhelm Heitmeyer beschreibt seit über 20 Jahren in seinen „Deutschen Zuständen“ eine Entwicklung, die aus Zunahme des Populismus, Demokratiemüdigkeit bis -skepsis (Wahlbeteiligung säkular sinkend, in einigen Quartieren nahe bei Null), gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, Forderungen nach Systemwandel („Flügel“) bis eben hin zu Rechtsterror reicht. Ein Kontinuum, das er mit einem Zwiebelmodell beschreibt und das bis zu 40% der Bevölkerung betrifft. Also auf jeden Fall quantitativ bedeutsam, sehr langfristig und vermutlich auch global – zumindest Europa, die Türkei, Russland und die USA mit betreffend. Wo fehlt’s da noch zum Megatrend? Und darf eine Verwaltung diesen Trend ignorieren?
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Hallo Wolf,
Danke für die Steilvorlage, die gerne benutze, um meinen Punkt etwas an dem Beispiel, das Du genannt hast, klarer zu machen.
Für mich ist Extremismus ein Denkmuster. Und zwar ein immer gleiches Denkmuster – egal welcher aus welcher Richtung der Extremismus kommt. Sehr laienhaft und vereinfacht gesagt besteht dieses Denkmuster darin, dass eine Gruppe eine Vorstellung, eine Überzeugung davon entwickelt, wie die Gesellschaft zu sein hat, was gut und richtig ist, welche Regeln gelten sollen. Alles was von dem Modell abweicht, ist falsch, jede Abweichung ist indiskutabel und wird bekämpft, bis hin zur Ausgrenzung und Tötung von Menschen, die anders aussehen, anders denken, anderes wollen. Je nach dem Set der Überzeugungen und Regeln wird der Extremismus zum linken, rechten, religiösen oder sonst wie gearteten.
Terrorismus dagegen stellt in meinen Augen eine Methode dar, Menschen für welchen Zweck auch immer gefügig zu machen, indem man sie latent und kontinuierlich mit materiellem Verlust, körperlicher und psychischer Gewalt, und Vernichtung bedroht.
Insofern ist sind meiner Meinung nach Extremismus und Terror für keine Megatrends, sondern Denkmuster und Methoden. Dafür spricht auch, dass sie zu allen Zeiten vorgekommen sind.
Wenn man nun auf mögliche Ursachen für deren zunehmendes Auftreten in der heutigen Zeit schaut, wird man meiner Ansicht nach sehr wohl Megatrends finden. Beispielsweise die Globalisierung. Und zwar Globalisierung als Möglichkeit Menschen und Waren in kürzester Zeit, Ideen und Geld ohne nennenswerte Verzögerung in jeden Winkel der Erde transportieren zu können, nebst dem daraus erwachsenden Bewusstsein ein globales Subjekt und Objekt zu sein. Aber auch eine Globalisierung, die wirkungsmächtige Fehlentwicklungen zeitigt, die uns das Gefühl gibt, als Individuum ein machtloses Nichts zu sein, die selbst ganze Länder in die Knie zwingen kann, die uns zu der konstanten Anstrengung zwingt, in einer hochkomplexen Welt fortwährend neu herausfinden zu müssen, was wahr, richtig und gut ist?
So gesehen, könnte man im zunehmenden Extremismus und Terror die – selbstverständlich gänzlich inakzeptable – Ausprägung eines breiteren Unwohlseins mit bestimmten Folgen der Globalisierung sehen. Insofern wäre die Globalisierung ein Megatrend, der langsam zur Ruhe kommt und folgenden, noch zu findenden oder herauszukristallisierenden – post-globalen – Megatrends Platz macht.
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