„Akte – Vorgang – Dokument“ – begriffliche Hürden bei der Einrichtung der E-Akte

Eine wesentliche Triebfeder bei der Digitalisierung ist die Ausweitung der Teamarbeit. Immer weniger Aufgaben können isoliert von einzelnen Sachbearbeiter:innen erledigt werden – und wo sie es können, werden sie bald von Algorithmen ersetzt werden. Dagegen nehmen Tätigkeiten zu, die nur von mehreren Menschen mit unterschiedlicher Expertise zu erledigen sind.
Dabei stehen wir auf einmal vor einer Herausforderung, auf die wir gar nicht vorbereitet sind: Wir müssen eine Fachsprache entwickeln, um schnell und präzise unsere Zusammenarbeit koordinieren zu können. E-Aktenprojekte unterschätzen dies leider allzu oft.

Das Thema dieses Beitrags ist sehr speziell, und nicht viele Leser:innen werden direkt damit konfrontiert sein. Aber es ist gleichzeitig ein Lehrstück, wie wichtig die Entwicklung einer Projektsprache für den Erfolg ist.

Definition der Begriffe Akte – Vorgang – Dokument

Bei allen Projekten zur Einführung der E-Akte spielt die Hierarchie dieser drei Begriffe eine Hauptrolle. Sie – so heißt es – stelle die Grundgliederung der gesamten elektronischen Schriftgutverwaltung dar. Und sie stammt natürlich aus der Papierwelt. Schauen wir uns also die ursprüngliche Papierdefinition an, wie man sie z. B. noch in den einleitenden Bemerkungen im Einheitsaktenplan Bayerns (EAPl) findet (/Anmerkung 1/):

Die Definition des Dokuments ist schon „modernisiert“ im Hinblick auf die Arbeit am PC. Sie beinhaltet sowohl klassische Papierdokumente als auch elektronische Dateien, bis hin zu CAD-Plänen oder Ähnlichem. Für alle soll aber noch das Wort „Schriftstück“ verwendet werden.


Die Definition des Vorgangs ist bemerkenswert vage. In meinen Schulungen zur Schriftgutverwaltung zeige ich diese Definition und bitte die Teilnehmer:innen, mir doch Beispiele für Vorgänge aus ihrer Praxis zu benennen. Dann kommen sie regelmäßig ins Grübeln. Was ist ein „konkreter, abgrenzbarer Sachverhalt“ denn nun konkret und abgegrenzt? Ich habe heftige Diskussionen von Archivaren erlebt, die sich über die Bedeutung des Begriffs nicht einig waren. – Ursprünglich, bis Anfang des 20. Jahrhunderts, bedeutete ein Vorgang einen einzigen „Schriftwechsel“ im wörtlichen Sinne: ein Bürger machte eine Eingabe, die Behörde antwortete mit einem (positiven oder negativen) Bescheid. Diese zwei Dokumente bildeten einen Vorgang. In dem Maße, wie die Arbeitsgänge komplexer wurden, erweiterte sich der Begriff und wurde dabei undeutlicher.


Eine Akte wird jetzt als Zusammenfassung von Vorgängen – und zwar von abgeschlossenen Vorgängen – definiert, die meistens unter einem „Oberbegriff“ zusammengefasst werden. Wie kommt man auf solche Oberbegriffe? Gibt es Regeln dafür? Unklar.

Die drei Sichten auf die „Verwaltungsarbeit“

In der Papierwelt gibt es zwei Sichten auf die Schriftgutverwaltung: Archivare und Registratoren auf der einen Seite, Sachbearbeiter:innen und Führungskräfte auf der anderen Seite. In der digitalen Welt werden sogar drei Sichten daraus: die Entwickler von DMS-Software kommen dazu (und müssen die Sichten der anderen Beteiligten gut verstehen).


In der ursprünglichen deutschen Verwaltungsregistratur, wie sie durch die Stein-Hardenbergschen Reformen um 1807 formalisiert wurde, waren die Sichten von Registratur und der „Arbeitswelt“ fast identisch. Der Registrator war quasi das „Betriebssystem“, das alle eingehenden und ausgehenden Dokumente in seinem Aktenverzeichnis auflistete und ihren Fluss organisierte:

Abbild 1: Der Fluss eines Bürgerantrags durch ein Amt lt. Preußischer Registraturordnung. Alles lief über den Registrator. Er vergab die Aktenzeichen. /Anmerkung 2/

Im weiteren Verlauf wurde die Rolle des Registrators wesentlich eingeschränkt. Dabei spielte die Büroreform der 1920er Jahre eine Rolle, bei der im Wesentlichen zur Sachbearbeiterablage übergegangen wurde: Vorgänge wurden erst in die Registratur gegeben, wenn sie abgeschlossen waren. Die Registratoren wurden an den Rand gedrängt und verloren weitgehend den Bezug zu den konkreten Arbeitsprozessen. Die Sichten drifteten auseinander.

Das verstärkte sich dramatisch mit der Einführung der PC’s an den Arbeitsplätzen: die Ordnung der Papierdokumente– die zumindest im Prinzip nach Aktenplan geführt werden sollten – und die Struktur von Dateien und Windowsordner auf den Servern liefen bald völlig getrennt nebeneinander her.

Abbildung 2: Die Sichten der Beteiligten auf das gesamte Schriftgut einer Verwaltung driften zunehmend auseinander.

Was war das Ergebnis?

  • In ihrer Sicht interessieren sich Archivare und Registratoren vor allem für Objekte (Gebäude, Flurstücke, Bürger, Unternehmen, Naturschutzgebiete usw.).
  • Die Sachbearbeiter:innen organisierten ihre (vor allem: elektronische) Ablage meist nach individuellen Ordnungsvorstellungen, die sich aus den Aufgaben ihrer Einzelzuständigkeiten ergaben.

Die Konflikte an den Nahtstellen zwischen beiden Welten nahmen zu. Die Abgabe von Akten an die Registraturen und weiter ihre Andienung an die Archive verschleppten sich. Denn die Papierakten in der Sachbearbeiter-Ablage waren oft unvollständig (elektronische Dateien wurden nicht zuverlässig ausgedruckt und zur Papierakte genommen) und nicht mit Aktenzeichen versehen. Und für eine sorgfältige Nachetikettierung der abgeschlossenen Papierordner hatte niemand Zeit und Lust. Die Archivare fühlten sich oft ohnmächtig und daran gehindert, gute Arbeit im Sinne ihrer Mission als gesellschaftliches Gedächtnis des öffentlichen Dienstes zu leisten.

Digitalisierung: Änderung von Arbeits- und Denkweisen

Die spontane, weitgehend planlose Einführung der PC-Arbeit ab Anfang der 1990er Jahre wirkte sich in verschiedener Weise aus:

  • Die Abläufe wurden komplexer. Immer mehr Aufgaben konnten nicht mehr individuell in der Einzelzuständigkeit von Sachbearbeiter:innen erledigt werden. Teamarbeit – oft über Referats- und Ämtergrenzen hinweg – wurde wichtiger.
  • Der Begriff des Dokuments wurde unklarer. Wenn eine E-Mail mit drei Anhängen eingeht – ist das dann ein Dokument oder sind es deren vier?
  • In der elektronischen Arbeit entkoppeln sich Aktivitäten von Dokumenten. In der Papierwelt wurden „Verfügungen“ auf die Dokumente geschrieben oder gestempelt und mit dem Dokument in an die Betroffenen weitergeleitet. Eine Wiedervorlage bestand darin, ein Dokument in einen Pultordner in ein Datumsfach zu legen und sich damit an eine Aufgabe zu erinnern usw. – Heutzutage pflegt jede ihre Aufgabenliste in Outlook, es gibt Teamboards, Aufgaben werden oft per E-Mail verteilt – alles neben und unabhängig von der Dateiablage.
  • In der Teamarbeit ist es wichtig, Rollen zu klären und Verantwortlichkeiten zu vereinbaren. Dabei hätte der Begriff des Vorgangs eine wichtige Hilfe leisten können. Wer ist federführend verantwortlich in einem Vorgang („Vorgangseigner“)? Welchen Status hat ein Vorgang gerade („aktiv“, „blockiert“, „wartend auf …“, „mit Erledigungsdatum …“) usw. Aber wo Begriffe fehlen, können sich keine verlässlichen Arbeitsstrukturen bilden. Missverständnisse und Energieverschwendung sind die Folgen. /Anmerkung 3/
  • Auch wenn man bei der E-Akte nur an Dokumente denkt, wäre der Vorgangsbegriff wichtig gewesen, damit die Sachbearbeiter:innen sich untereinander verständigen. Wenn das Bauordnungsamt einen Bauantrag bearbeitet und eine Stellungnahme der Unteren Naturschutzbehörde benötigt – ist das dann ein Vorgang oder sind es zwei und wer ist für die Ablage von welchen E-Mails des Antragstellers zuständig? In großen Projekten sind oft fünf oder zehn Player beteiligt – und die Aktenführung ist völlig zersplittert und ein einziges Chaos mit unendlichem Stress für die Beteiligten.
  • Und die klassischen „Akten“, was wurde aus denen? Die Aktenpläne bildeten früher im Wesentlichen die Leitzordner ab. Die Einzelakten organisierten sich nach Liegenschaften, Schulen, Flurstücken und Baugebieten.
    Die aktiven Vorgänge aber organisierten sich daneben und oft zusätzlich nach Produkten oder Prozessen. Insbesondere die Produktpläne spielten in den kommunalen Haushalten bei der Ablösung der kameralen Haushaltswirtschaft in vielen Bundesländern eine wichtige Rolle. Sie beförderten das Denken in Produkten. Erste produktorientierte Aktenpläne wurden erarbeitet. /Anmerkung 4/
    Aber im Mainstream kam das nicht an. Die Aktenpläne blieben wie sie waren.

Versäumte Chancen – der Übergang zur E-Akte

In den Diskussionen über die Einführung der E-Akte, die vor über 20 Jahren starteten, hätte es also einige Möglichkeiten gegeben, große Schritte voran zu machen, um die Anwender:innen der neuen DMS-Software zu unterstützen. Das hätte aber bedeutet, diese Anwender:innen auch zu beteiligen und ihre Anforderungen aktiv aufzunehmen.

Stattdessen übernahm das „Organisationskonzept elektronische Verwaltungsarbeit“ des BMI die herkömmlichen Archivarssichten und beschränkte sich auf geringe Retuschen an den Begriffsdefinitionen. /Anmerkung 5/


Die grundlegende Definition der Akte lautet:

„Eine elektronische Akte im Sinne dieses Konzepts ist eine logische Zusammenfassung sachlich zusammengehöriger oder verfahrensgleicher Vorgänge und/oder Dokumente,

  • die alle aktenrelevanten E-Mails, sonstigen elektronisch erstellten Unterlagen sowie gescannten Papierdokumente, die sogenannten Schriftstücke (Dateien) umfasst und so
  • eine vollständige Information über die Geschäftsvorfälle eines Sachverhalts ermöglicht.“ /Anmerkung 6/

Undefinierte Begriffe werden mit anderen undefinierten Begriffen gekoppelt. Was bedeutet „sachlich zusammengehörige Vorgänge“? Sind alle Vorgänge, die sich auf das Flurstück „Industriestraße 32“ beziehen, „sachlich zusammengehörig“? Oder alle Bauanträge der „Immobilienbewirtschaftung Progress AG“? Oder sind es alle Statikprüfungen? Und was bedeutet „verfahrensgleich“? Damit sind offenbar Prozesse gemeint, die Prozesssicht wird aber aus dem Baustein „E-Akte“ explizit ausgegrenzt. Damit wird die Chance vertan, prozess- oder gar mehrdimensionale Aktenpläne zu entwickeln, die Objekt- und Prozesssicht vereinen. Dabei ist gerade das doch die Stärke digitaler Medien: einen Papierordner kann man nicht einfach mal umsortieren und mal die eine und mal die andere Sicht anbieten. Aber mit digitalen Vorgängen ginge das sehr wohl. Man könnte ein- und denselben Vorgang sowohl in einen Sachbearbeiter-Aktenplan ablegen (der vom jeweiligen Team erarbeitet wird) als auch nach einem klassischen Aktenplan, wie ihn Archivare bevorzugen (und das könnten dann auch die Registratoren und Archivare selbst machen, weil das Sachbearbeiter:innen oft zu kompliziert ist). Stattdessen zwingt man den Beschäftigten, den Aktenplan zu bedienen, statt dass der Aktenplan den Beschäftigten und ihren Prozessen dient. So schafft man Unmut in Projekten und völlig falsche Fronten.

Die Definition des Vorgangs bleibt ähnlich vage, wie es aus Papieraktenplänen bekannt war:

„Der Vorgang

  • die kleinste Sammlung von zusammengehörenden Dokumenten aus der Bearbeitung eines Geschäftsvorfalls,
  • ist in der Regel Teileinheit einer Akte“ /Anmerkung 7/

Die Chance, zu einer klaren prozessorientierten Definition eines Vorgangs zu kommen, wurde achtlos liegengelassen.

Abbildung 3: Ein Vorgang ist nicht mehr einfach ein Papierordner und auch kein elektronischer Ordner. Der prozessorientierte Begriff hat sich angereichert um Aktivitäten, Teamrollen, Angaben zum Status u.v.a.m.

Eine große Änderung erfolgt in Bezug auf die Definition, was ein Dokument ist. Und gerade diese Änderung erscheint bemerkenswert unüberlegt:
„Das Dokument (…)

  • bildet die kleinste logische Einheit eines Vorgangs und kann aus einem oder mehreren Einzelobjekten (Schriftstücke, zum Beispiel PDF- oder Office-Dateien, Bilder ) bestehen“ /Anmerkung 7/

Das heißt, die obige Frage bezüglich einer E-Mail mit Anhängen wird vom Organisationskonzept des BMI dahingehend beantwortet, dass sie ein Dokument bildet, das verschiedene Dateien enthält. Oft wird das Bild eines „Briefumschlags“ verwendet: ein Dokument sei ein Briefumschlag mit Metadaten daraus, und der Umschlag habe mehrere inliegende – nun ja, was? – „Dokumente“.

Abbildung 4: Der Begriff des Dokuments erfährt eine grundlegende Umdefinition, weil „Dokument“ und „Datei“ unterschiedliche Bedeutungen annehmen

Die Dokumentendefinition führt in meinen Schulungen regelmäßig zu großem Unverständnis der Sachbearbeiter:innen. Nur ein Beispiel:

„Angenommen, in einem Bauprojekt schickt mir ein Architekt eine E-Mail mit drei Plänen im CAD-Format. Einen dieser Pläne überarbeite ich. Muss ich dann ein extra Dokument anlegen und die Datei da hineinkopieren? Oder hinein verschieben? Und wenn ich die Zeichnung an den Architekten per Mail zurückschicke: ist das dann nochmal ein Dokument? Und wie erfolgt dann eine Versionskontrolle – das heißt wie sehe ich sofort, dass die drei Pläne in drei „Briefumschlägen“ nur verschiedene Versionen der gleichen Datei sind?“

Resultat aller Missverständnisse: Die Begriffe in der DMS-Software

Was aus dem Ganzen herauskommt, ist eine Inkongruenz von

  • Sachbearbeiter:innen und was sie an Unterstützung für ihre Arbeitsprozesse brauchen würden (ich nenne das mal die Geschäftssicht)
  • und dem, was in gängigen DM-Systemen abgebildet wird.
Abbildung 5: Die Unstimmigkeiten zwischen der Sicht der Anwender:innen und der Sicht, die ein typisches DMS anbietet.

Ich habe in Abbildung 5 versucht, an einem konkreten Beispiel diese Unstimmigkeiten zwischen der Arbeits- und Denkweise der Anwender:innen und der Struktur der E-Akte zu illustrieren. Und zwar am Beispiel einer Software, die das „Organisationskonzept“ des BMI besonders rigoros abgebildet hat. /Anmerkung 8/ Das Beispiel stammt aus einer Stadtverwaltung, die einen neuen Kindergarten bauen will.

Die Abteilung „Hochbau“ denkt und kommuniziert in Objekten (konkretes Gebäude Kindergarten Löwenzahn) und in Prozessen („Neubau“). Mit dem Prozess sind bestimmte Berechtigungen und Rollen verknüpft (Wer ist im Team und hat Zugriff? Wer ist federführend („Vorgangseigner“)? Wie sieht die Unterordnerstruktur aus („Meilensteine“), die sich bei Neubauten an den Phasen der HOAI orientiert?) Für das Objekt bietet das DMS die Möglichkeit an, eine Kindergartenakte zu bilden. Die Prozesslogik wird überhaupt nicht abgebildet.

Insbesondere ist es in diesem DMS nicht möglich, Unterordner zu bilden. Nun fallen bei einem Neubau 3.000 bis 5.000 Dokumente an. Wie soll man die irgendwie strukturieren, wenn man nicht mal eine weitere Hierarchiestufe zur Verfügung hat (zwei Hierarchiestufen wären nötig!).

Die Registratorin ist findig. Sie schlägt dem Hochbau folgendes Vorgehen vor:

  • Wir nehmen den Kindergarten Löwenzahn in den Aktenplan auf und bilden dort einen eigenen Aktenplaneintrag. Das heißt, wir ziehen ihn „eine Ebene nach oben“. Das ist zwar gegen alle Regeln, aber verschafft Platz nach unten, in die Hierarchiestufen darunter.
  • Der „Neubau KIGA Löwenzahn“ wird dann zur eigenen Akte und jeder Meilenstein – wie zum Beispiel die „Entwurfsplanung“ – wird zum eigenen Vorgang.
  • Wie das so ist mit Workarounds: die Lösung eines Problems schafft andere Probleme an anderer Stelle. Wenn ich nach Vorgängen zu Kindergärten suche, finde ich natürlich den Neubau nicht. Denn auf der Ebene der Vorgänge steht „Entwurfsplanung“ und nicht „KIGA“. Und das Setzen von Berechtigungen wird mühsam und muss für jeden Meilenstein gesondert manuell erfolgen.
  • Und natürlich ist das Problem der Doppelung von Dokumenten und Dateien nach wie vor vorhanden.

Die größte Differenz zwischen Geschäftslogik und DMS-Logik besteht in der Ineinssetzung von Vorgang (Geschäft) mit „Ordner“ (DMS). Das wird deutlich in einem Fall, der unserem KIGA-Beispiel entgegengesetzt wird: Vorgänge nicht mit besonders vielen, sondern besonders wenigen Dokumenten.

Das kann zum Beispiel bei einfachen Anträgen der Fall sein, bei denen pro Vorgang nur zwei Dokumente anfallen: ein Bürgerantrag und seine Bewilligung (Anwohnerparkausweise, Wohngeld usw.).

Für diese Fälle vermerkt das BMI in seinem „Organisationskonzept E-Akte“:

„In bestimmten Fällen kann es jedoch sinnvoll sein, von der dreistufigen Hierarchie Akte-Vorgang-Dokument abzu-weichen. So kann es bei Fallakten aufgrund der teilweise begrenzten Menge der in der Bearbeitung entstehenden Dokumente im Sinne der Handhabbarkeit vorteilhaft sein, eine zweistufige Hierarchie zu wählen.

Dieses würde Folgendes bedeuten:

  • Akte = Zusammenfassung sachlich oder formal gleicher fallspezifischer Dokumente zu einer Einzelmaßnahme
  • Dokument = Das Dokument umfasst ein Schriftstück oder mehrere Schriftstücke (Dateien) sowie die zugehörigen beschreibenden Informationen (Metadaten).“ /Anmerkung 9/

Hier wird die Begriffsverwirrung, die das BMI anrichtet, besonders deutlich: auf der Geschäftsebene ist natürlich ein Wohngeldantrag ein Vorgang, auch wenn ich in der Software aus pragmatischen Gründen keinen Vorgangsordner dafür anlege.

So beginnt der Eintritt in die neue digitale Welt gleich mit Notlösungen und viel Unmut bei den Betroffenen.

Was kann man tun?

Der grundlegende Webfehler vieler E-Aktenprojekte liegt in der mangelnden Einbeziehung der Anwender:innen. Die Beschäftigten müssen in die Lage versetzt werden, sich die Möglichkeiten der volldigitalisierten Arbeit selbst zu eigen zu machen. Die E-Akte muss ein Werkzeug in ihren Händen werden und nicht ein Korsett, in das sie hineingezwängt werden.

Das bedeutet die Entwicklung einer exakten Sprache, die die aktuelle Geschäftslogik in den Verwaltungen widerspiegelt. Sie darf nicht an der Archivsprache der untergegangenen Papierwelt festhalten, und sie darf diese auch nicht einfach in eine Datenbanklogik von DMS-Software abbilden.

Exaktheit der Sprache und Variabilität der Anwendungen widersprechen sich nicht, sondern bedingen einander: Jedes Team muss die Möglichkeit haben, seine eigenen Varianten des Vorgangsbegriffs für sich zu definieren und in der E-Akte abzubilden.

Ohne Eigeninitiativen der Anwender:innen wird das nicht gehen. An uns als FAV wurden verschiedene Anfragen gerichtet, wie wir uns gegenseitig bei der Erarbeitung von Good practices unterstützen können. Damit wir auch aus schief aufgesetzter Software noch das Optimale herausholen können und gleichzeitig Druck für künftige bessere Projekte aufbauen können. Für den 10.06.2021 haben wir ein Treffen, um die Arbeitsgruppen rund um diese Themen zu bilden. Anmeldung zum kostenlosen Treffen bei XING: https://www.xing-events.com/AWRRRNR.

Anmerkungen

/1/ Staatliche Archive Bayerns (Hrsg.): Einheitsaktenplan für die bayerischen Gemeinden und Landratsämter mit Verzeichnis der Aufbewahrungsfristen, Digitale Medien Nr. 3, Stand 1.4.2011. Alle anderen mir bekannten Aktenpläne (mit Ausnahme der KGSt) bringen fast identische Definitionen.
/2/ Angelehnt an: Thea Miller: The German Registratur, Thesis Submitted for the Degree of Master of Archival Studies , Calgary (Kanada), Oktober 1997, Seite 18
/3/ Eric Evans hat eindringlich auf die Notwendigkeit hingewiesen, eine eigene Sprache für Teams und Projekte zu entwickeln. Vgl. sein Buch: Domain-Driven Design: Tackling Complexity in the Heart of Software, 2003
/4/ Wolf Steinbrecher: Produktorientierte Ablage: Optimierung des Dokumentenmanagements in der Kommunalverwaltung, Richard Boorberg-Verlage, 2007; KGSt (Hrsg.): Produktorientierter Aktenplan der KGSt, Version V2021.1, https://www.kgst.de/produktorientierter-aktenplan-der-kgst
/5/ Bundesministerium des Innern (Hrsg.): Organisationskonzept elektronische Verwaltungsarbeit, Baustein E-Akte.
/6/ das., Seite 7
/7/ das.
/8/ Die Art und Weise, wie die E-Akte konkret implementiert wird, hängt sehr stark vom Produkt und von den Verantwortlichen im E-Akten-Projekt ab. Hier ein konkreter mir bekannter Fall. Ich kenne andere Fälle, die etwas anders aussehen und ihre Fallstricke dann an anderer Stelle haben.
/9/ Organisationskonzept, Seite 15

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

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