Aus der agilen Methodenkiste: Ganz im Gegenteil – Denken in Alternativen

Entweder – oder…? So manches Mal fallen Entscheidungen schwer. Keine der Varianten scheint die richtige zu sein. Wie wir in Dilemma-Situationen – auch paradoxe – Alternativen finden können und bessere Entscheidungen treffen, davon handelt dieser Beitrag.

Die Fakten sprechen sowohl für die eine als auch die andere Seite. Das Kopfkino, weiter nachdenken oder diskutieren nervt nur noch. Nichts geht mehr, weder vor noch zurück. Lieber nicht entscheiden, dann macht man keine Fehler, setzt sich nicht in die Nesseln, stößt niemanden vor den Kopf. Aber eine Entscheidung ist nötig, sonst geht es nicht weiter. Damit Neues möglich wird. Was also tun?

Jeder von uns kennt das. Im Beruflichen, im Privaten, bei persönlichen Entscheidungen, die wir treffen müssen. Neue Software einführen oder mit dem Update der bisherigen weiter machen? Immobilie kaufen oder mieten? Aufgabe outsourcen oder intern abwickeln? Arbeitsstelle wechseln oder bleiben?

Weitwinkel statt Tunnelblick

Gerade, wenn Ideen schon vielfach durchdacht, diskutiert sind, wenn sich bei den Beteiligten womöglich Fronten gebildet haben, wird es immer schwieriger, eine Entscheidung zu treffen. Das Dilemma: Es ist klar, dass es nicht wie bisher weiter gehen kann. In solchen Situationen kann das Denken in Alternativen weiterhelfen. Wie schaffen wir es, vom Tunnelblick wieder auf das Weitwinkelobjektiv zu stellen? Dazu möchte ich ein Format vorstellen, das ich in der systemischen Aufstellungsarbeit anwende. Das Tetralemma stammt aus der altindischen Rechtsprechung. Tetra bedeutet „vier“ und lemma „Voraussetzung, Annahme“. Richter hatten zu entscheiden, ob der einen, der anderen, beiden oder keiner von beiden Parteien Recht zu gesprochen werden soll.

Den Spielraum erweitern mit dem Tetralemma-Format

Die Tetralemma-Aufstellung ist ein von Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd[1] entwickeltes Format, das den Handlungs- und Entscheidungsspielraum erweitert. Das Modell hat deshalb auch den Weg in das systemische Coaching, in Beratung und Therapie gefunden.

In der Tetralemma-Aufstellung werden vier bzw. fünf Personen im Raum in Form eines Quadrats platziert, die folgenden Alternativen vertreten*:

  • Das Eine – die Variante, die im Vordergrund steht, als die richtige erscheint oder von einer Partei vertreten wird.
  • Das Andere – dem Einen gegenüberliegend, das Gegensätzliche (ohne zu negieren), eine zweite Lösung oder echte Alternative.
  • Beides – die übersehene Vereinbarkeit und Verbindung zwischen den gegensätzlichen Positionen (das kann auch ein Kompromiss, eine sequentielle Lösung in der Form, dass manchmal das Eine und manchmal das Andere gilt, oder eine gleichzeitige Anwendung der beiden Lösungen sein). Geht es in der Entscheidungssituation um mehrere Lösungen, dann kann diese Position auch „Alles davon“ bedeuten.
  • Keins von beidem – diese Position zeigt möglicherweise, warum noch keine Entscheidung getroffen werden konnte, gibt einen neuen Sinn oder eröffnet eine andere Dimension.
  • Als fünftes, auch freies Element kann „All Dies und auch das nicht“ als Standpunkt in die Überlegungen einbezogen und ohne festen Platz im Raum aufgestellt werden. Mit dem fünften Element wird eine neue Dimension betreten. Hier wird das Muster des Entweder-Oders komplett verlassen. Es finden zum Beispiel Gefühle, Humor und eine völlig andere Sicht auf die Dinge ihren Ausdruck. Fragen wie „Was wurde noch nicht angesprochen?“ oder „Um was geht es eigentlich?“ helfen dabei weiter.

Das Tetralemma im Alltag nutzen

Wie kann das Tetralemma in Projekten und in Alltagssituationen genutzt werden? Hier ein paar Anregungen gegen das Kopfkino und verhärtete Fronten…

Bodenanker legen

Die vier bzw. fünf Standpunkte, die auch konkret beschriftet werden können, werden als sogenannte Bodenanker auf dem Fußboden ausgelegt. Man beschriftet jeweils für jede Position ein DIN A4- oder Flipchart-Papier mit dem jeweiligen Stichwort. Anschließend stellt sich die Person, die die Entscheidung treffen muss, auf die verschiedenen Positionen im System. Dabei schaut sie in sich, wie es ihr hier gefühlsmäßig geht, welche Gedanken und Ideen dazu kommen. In der Gruppe, die diskutiert, können sich der Reihe nach oder alle gemeinsam, die an der Entscheidung beteiligt sind, in die Positionen einfühlen.

Die Version für fortgeschrittene Arbeitsteams ist, dass sich die ursprünglichen Vertreter eines Standpunkts sich auf „ihre“ Position, ihre favorisierte Lösung, stellen und sich mit den anderen Positionen auf den Bodenankern stehend in einer ersten Runde austauschen. Dann nehmen sie in weiteren Austauschrunden mit innerer Offenheit auch alle anderen Positionen ein. Sie versuchen, die Gefühle an der jeweils anderen Position wahrzunehmen und offen darüber zu sprechen.

Aufstellung mit Gegenständen – alleine oder gemeinsam

Wie bei der Strukturaufstellung können die oben beschriebenen Positionen auf einer definierten Fläche (einem Tisch, dem Boden) mittels Gegenständen, die mit Zetteln beschriftet werden, positioniert werden. Man geht die Gegenstände durch und betrachtet die Konstellation auf der Fläche aus verschiedenen Perspektiven. Und gewinnt neue Erkenntnisse.

Die Tetralemma-Canvas

Du denkst lieber (alleine) schriftlich nach? Hier findest Du das Format als Canvas zum Ausfüllen. Mach Dir Notizen zu den einzelnen Standpunkten und sammle Ideen, wie Du diese gestalten könntest. Das kannst Du auch gemeinsam mit anderen in der Gruppe machen.

Tetralemma-Canvas

Besser entscheiden können

Zurück zur Anfangssituation: Falls sich die Beteiligten auf dieses Vorgehen einlassen und von den bisherigen Positionen lösen, können Sie aus der neutralen Nicht-Position, der Metaebene, ganz anders als bisher auf die Situation schauen. Allein schon die Visualisierung der Positionen sorgt für einen frischen Blick und neue Klarheit, nicht nur bei visuell veranlagten Menschen. Durch die Aufstellung entstehen Bilder zu dem, was bisher meist abstrakt war. Beteiligte werden zu Beobachtern. Die Wahrnehmung verändert sich. Neben der rationalen Sicht auf Entscheidungen erhält auch die Bauchintelligenz eine Chance. Dadurch tauchen neue Möglichkeiten auf.

Mit dem Blick von außen auf das System sind neue Erkenntnisse und Gewissheiten sicher. Sie können eine Entscheidung einfacher, vielfältiger und sicherer machen. Neben dem Entweder-Oder gibt es häufig noch viel mehr, als auf den ersten Blick im Raum schwebt. Und manchmal geschehen sogar kleine Wunder…


[1] Gründer des Syst-Instituts, website https://www.syst.info/de, abgerufen am 01.01.2022; Teile der Überschrift entnommen aus dem Buchtitel von Insa Sparrer und Matthias Varga von Kibéd: Ganz im Gegenteil: Tetralemmaarbeit und andere Grundformen Systemischer Strukturaufstellungen – für Querdenker, und solche die es werden wollen (Systemaufstellungen) Taschenbuch – 5. November 2020, Carl-Auer-Verlag

*angelehnt an die Beschreibung in Lexikon des Familienstellens und der systemischen Aufstellungsarbeit von Pierre Frot, Dezember 2013, Schirner Verlag

Titelfoto: Arek Socha auf Pixabay

Autor: Christine Gebler

Veränderungen, die bewegen.

Ein Gedanke zu „Aus der agilen Methodenkiste: Ganz im Gegenteil – Denken in Alternativen“

  1. Vielen Dank, Christine, für diesen wunderschönen Beitrag. Die Überwindung des Denkens in „unüberwindlichen Alternativen“ beschäftigt mich auch stark (siehe Beitrag vom 27. Dezember). Jetzt würde mich natürlich interessieren, ob Leser:innen auch schon Erfahrungen mit diesen oder ähnlichen Formaten gemacht haben.
    Liebe Grüße, Wolf

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