Am Donnerstag, 10. November 2022, fuhr auf Einladung des Forums Agile Verwaltung und der Initiative Bürgerrat Kirchplatz aus Bietigheim (Baden) ein gemischtes Grüppchen Interessierter in die elsässische Stadt Kingersheim. Wir waren vom dortigen Bürgermeister Laurent Riche und der Stadtverwaltung eingeladen, uns über ihre Erfahrung bei der Organisation von Bürgerräten zu informieren. Und über ihre Überzeugungen, die sie dabei unterstützen.
Es sind mehrere Handlungsachsen, die dem Vorgehen bei aller Offenheit einen klaren Fokus geben. Entwicklung von und mit Partizipation ist nur eine davon. Ökologische Verträglichkeit eine weitere.

Wie können wir die Anschlussfähigkeit der Ergebnisse von Bürgerräten sichern?
Ein Leser vom FAV, der nicht teilnehmen konnte, hatte uns folgende Frage mit auf die Fahrt gegeben:
„Wie wird bei unseren französischen Freunden die Anschlussfähigkeit von Ergebnissen aus Bürgerräten an Politik und Verwaltung sichergestellt? – Meine Beobachtung ist, dass die Bürgerräte inzwischen sehr vernünftig funktionieren und alle vor Ort durchführenden Büros ein ordentliches Niveau erreicht haben. Hapern tut es beim Übergang der Ergebnisse in Gemeinderat und Politik. Insbesondere wenn es darum geht den Bürgerräten zu zeigen, dass sie gehört wurden (aber nicht erhört werden müssen).”
Die Kingersheimer Antwort lautet: Wir vermeiden die Frontstellung von zwei unverbundenen Organen “Gemeinderat” und “Bürgerrat”, indem wir sie von Anfang an miteinander verzahnen. Ein Bürgerrat (conseil participatif) besteht nicht nur aus Bürgern, sondern setzt sich aus vier Ausschüssen (collèges) zusammen:
- Ein Ausschuss wird aus Einwohnern gebildet, und zwar aus Freiwilligen, die sich einer ersten Informationsveranstaltung melden, und/oder aus Mitgliedern, die durch das Los aus den Wählerverzeichnissen bestimmt werden. Etwa ein Viertel der Mitglieder besteht aus „besonders Betroffenen“ durch das jeweilige Thema (z. B. Anwohner einer neu zu gestaltenden Straße).
- Ein Expertenausschuss – je nach Gegenstand Architekten, Stadtplaner, Experten jeder Art.
- Ein Ausschuss aus Vertretern der Vereine, Bürgerinitiativen und anderer Zusammenschlüsse (fakultativ, muss es nicht bei jedem Thema geben).
- Ein Ausschuss aus Stadträten.
Der Einwohnerausschuss – das wäre in unserem “deutschen” Verständnis der eigentliche “Bürgerrat” – bildet immer die Mehrheit im Conseil participatif. Das heißt, er umfasst mehr Mitglieder als die restlichen drei Ausschüsse zusammen. Aber mit dem Ausschuss 4 sind immer gewählte Gemeinderäte in den Diskussionen dabei und können ihre Standpunkte dort einbringen. Das heißt schon vor der Fertigstellung der Abschlussempfehlungen fließen immer eventuelle Einwände der Gemeinderäte in Diskussionen und Redaktionen mit ein. Dieses Verzahnungskonzept ist elementar.
Und das macht es später dem Gesamt-Gemeinderat schwer, die Ergebnisse des Bürgerrats rundweg abzulehnen oder zu ignorieren. In Kingersheim kommt das de facto nie vor.
Besonderheiten des französischen Gemeinderechts
Diese Konstruktion ist vermutlich nicht Eins zu Eins in deutsche Kommunen übertragbar. In Frankreich ist nämlich die Parteienkonkurrenz viele eingeschränkter als in der Bundesrepublik.
In Frankreich herrscht Listenwahl. Das heißt auch dort kandidieren Parteien, aber es gibt einen großen Anreiz, parteiübergreifende Listen zu bilden. Und der Bürgermeister wird nicht gesondert gewählt, sondern ist der “Spitzenkandidat” seiner Liste. Auch in Kingersheim hat Bürgermeister Riche zu den Wahlen 2020 eine Liste gebildet, die parteiungebunden war und sich an gemeinsam definierten Zielen (ökologische und demokratische Transition, Bildung) orientierte.
Nach französischem Gemeinderecht gewinnt die Liste mit der relativen Mehrheit der Stimmen sofort 50% der Mandate. Die rechtlichen 50% werden dann proportional zum Stimmergebnis verteilt. Eine Liste, die 40% der Stimmen erzielt hat, bekommt so sofort 50% + 40% der restlichen 50% = 70% der Mandate. Die “Opposition” erhält mit ihren 60% Stimmen nur 30% der Mandate.

Es ist ein System starker Mehrheiten und der engen organisatorischen Einheit von Verwaltung und Politik. Nicht nur ist der Bürgermeister Chef der Verwaltung, sondern auch weitere Gemeinderäte werden als “Dezernenten” (conseillers délégués) in der Verwaltungsspitze tätig. So etwas gibt es in deutschen kleineren und mittleren Städten nicht.
Es gibt empirische Untersuchungen, wonach eine ausgeprägte Parteienkonkurrenz wie in Deutschland kreative Lösungen im Umgang mit großen Herausforderungen behindert (vgl. den Beitrag von 2016 auf unserem Blog “Umgang mit Finanzknappheit: Sind die Kommunen in den Niederlanden „agiler“ als die in NRW?”, https://wordpress.com/post/agile-verwaltung.org/892). Auf der Hinfahrt gab es bei uns im Auto dazu eine lebhafte Diskussion: Ist das Kommunalsystem bei uns überhaupt in der Lage, weitreichende Visionen zum Leitstern zu machen wie dies Kingersheim mit seiner ökologischen und demokratischen Ausrichtung zeigt? – Dies wäre ein sehr wichtiges Thema für uns vom FAV.
Die Methode “Spaziergang durch den Kiez”
Das Modell Kingersheim lebt davon, tradierte Rituale wahrzunehmen, dann in Frage zu stellen und wenn nötig zu ersetzen. Ein solches Ritual heißt in vielen Orten “Bürgerversammlung im Stadtviertel”. Es läuft so ab: Einmal im Jahr lädt die Stadtverwaltung zum Bürgertreffen. Alle Einwohner eines Stadtviertels sind herzlich eingeladen, ihre Wünsche, Anregungen, Kritik den Vertretern aus dem Rathaus zur Kenntnis zu bringen.

Oft geht es nicht um viel, was dort auf den Tisch kommt: zugeparkte Fahrradwege; Autos, die die verkehrsberuhigten Zonen souverän ignorieren; Hundekot auf der Straße; nächtlicher Lärm von jungen Leuten, die im Sommer auf einer Grünfläche feiern.
Die Teilnehmenden sitzen sich gegenüber: vorne am erhöhten Tisch zwei Vertreter der Stadt. Im Saal 15 oder 20 Einwohner, die sich melden und aufgerufen werden. Die Struktur ist die von Magnet und Eisenspänen: alle richten sich auf das Zentrum vorne aus, von wo die Antworten erwartet werden.
Und diese Antworten sind bemüht, aber nicht immer befriedigend. Ja, die Blumen in den städtischen Blumenkästen waren dieses Jahr teilweise am Vertrocknen. Der Bauhof hat gegossen wie die Jahre zuvor, aber bei knapp 40° reicht einmal pro Tag nicht. Wir werden mal mit dem Bauhof reden, wir notieren es uns. – Nächste Frage bitte.
Es ist die Struktur von Bittenden und Versprechenden. Die einen haben Problemstellungen – verbunden mit mal weniger, mal mehr Ärgergefühlen. Die anderen haben die Lösungen – sollten sie zumindest haben – wozu wählen wir sie sonst?
Irgendwann ist das Ritual zu Ende, und so ganz richtig zufrieden ist meist keiner. Vieles blieb im Vagen, vieles schwebt in der Luft.
Kingersheim hat dieses Modell ersetzt durch „Bestandsaufnahmen im Gehen“ (“diagnostics en marchant”). Der Bürgermeister lädt zum Spaziergang ein. Die Gruppe formt ein Ganzes und bewegt sich durch das Viertel. Man schaut gemeinsam auf die Knotenpunkte der Probleme. Dort die Grünanlage – muss der nächtliche Lärm denn sein? Kann man nicht mal etwas regelmäßiger eine Polizeistreife vorbeischicken? Naja, ob das der Weisheit letzter Schluss ist, wendet jemand ein. Immer gleich mit Strafen drohen? Drogendealer sinds ja nicht, die sich dort treffen, meint ein Dritter, eher sind es Teenies, die nicht wissen wohin.
Die kanalisierte Kommunikation zwischen einem Bürger und der Verwaltung – hin und zurück – löst sich auf. Die Leute kommen untereinander ins Gespräch. Im Gehen bilden sich Gruppen, die untereinander reden – lösen sich wieder auf – mischen sich neu. Nicht nur die Stadtvertreter sind für die Lösungen “zuständig” – sondern auch die Betroffenen selbst. Das Pingpong zwischen Forderung auf der einen Seite und Lösungsverantwortung auf der anderen löst sich auf und gibt Raum für das vernetzte Gespräch. Die Bewegung tut das Ihre – die Welt ist nicht starr, sondern im Fluss.
Das neue Verfahren bietet keine Garantie für Lösungen – sofort, hier und jetzt. Aber der Prozess ist besser, auf Augenhöhe.