Viele Kommunen haben die Einführung der „digitalen Akte“ für die nächste Zukunft auf ihre Agenda geschrieben. Ein sehr ehrgeiziges Vorhaben. Die Ausgangslage dafür ist aber alles andere als solide. Denn die bisherigen elektronischen Arbeitsstrukturen beruhen nach wie vor auf Traditionen aus der Papierwelt.
Zwänge des Papiers und seine Folgen
Ein Papierordner hat bestimmte Merkmale, die sich aus seiner physischen Beschaffenheit ergeben:
- Er kann sich zu einem bestimmten Zeitpunkt nur an einem einzigen Ort befinden. Hat Kollege Meyerbeer den Ordner auf seinem Schreibtisch, kann Kollege Müllerschön ihn nicht auch gleichzeitig haben. Er muss warten. Oder er muss sich Kopien machen.
- Papierdokumente in Ordnern (egal, ob Steh- oder Hängeordner) kann man nicht mal einfach so umsortieren. Ihre Ordnung ist sehr starr. Benutzerspezifische Sichten sind nicht möglich. Deshalb muss eine Ordnung einheitlich für alle – für alle in einem Sachgebiet oder sogar für die gesamte Behörde – festgelegt werden. Und dabei wird die am häufigsten benötigte Sicht auf die Dokumente abgebildet – andere Bedürfnisse haben das Nachsehen. Diese Einheitsordnung zu definieren ist Aufgabe des sog. „Aktenplans“.
Punkt 1 hat zur Folge, dass die Verwaltungsarbeiten so weit wie möglich durch einen einzelnen Sachbearbeiter erfolgen (unter Hinzuziehung seines Vorgesetzten, natürlich). Teamarbeit ist sehr umständlich. Am besten funktioniert das System, wenn ein Sachbearbeiter einen Vorgang – zum Beispiel den Antrag eines Bürgers oder eine Ordnungswidrigkeit – von Anfang bis Ende alleine bearbeitet.

In so einem Falle hat der Sachbearbeiter all „seine“ aktiven Vorgänge in „seiner Ablage“, der sog. Sachbearbeiterablage. Ist ein Vorgang abgeschlossen, wird die Papierakte an die Registratur abgegeben, die sie mit einem Aktenzeichen versieht und nach dieser Ordnung ablegt. Das Aktenzeichen soll nicht die aktive Arbeit unterstützen; sondern erst nach ihrem Abschluss ihre Wiederauffindbarkeit in der ferneren Zukunft garantieren.
Teamarbeit wird soweit wie möglich vermieden, weil dann die Unterlagen dauernd zirkulieren müssen. In manchen Abteilungen ist sie unumgänglich. So ist an der Bearbeitung eines Bauantrags in der Regel ein Verwaltungsbeamter und ein Bauingenieur oder Architekt beteiligt: der eine prüft die rechtlichen, der andere die baulichen Voraussetzungen.
Schon diese einfache Kooperation stellte die traditionelle Verwaltung vor Probleme. Meistens wurden sogenannte „Zuarbeiter“ als besonderer, dequalifizierter Berufsstand damit beschäftigt, jeweils die benötigten Unterlagen (zum Beispiel Vorgänge zum gleichen Flurstück in den vergangenen Jahren) aus der Registratur zusammenzustellen und im Umlauf zwischen den Beteiligten zu halten.
Einführung der EDV: entfesseltE Papierlogik
Ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zog die Elektronische Datenverarbeitung (EDV) in die Behörden ein, ab Mitte der 1990er Jahre in Form von Personal Computern, die nach und nach vernetzt wurden.
Die neuen elektronischen Strukturen, die tastend entwickelt wurden, blieben weitgehend ein Abbild der papierenen Ordnung:
- Zuerst war der PC nur Schreibmaschine; die Dokumente wurden ausgedruckt und auf dem PC gelöscht. Aber nach und nach wurde fand ein Ersetzungsprozess statt: Das Papierdokument wurde zum elektronischen Dokument.
- Aus Papierordnern wurden elektronische Ordner.
- Die Umläufe wurden zum E-Mail-Versand von Dokumenten.
Von daher war der Bruch bescheiden. Die Arbeitsmittel änderten sich scheinbar drastisch, aber die Abläufe blieben.
Nur die Bremsen fielen fort:
- Das Kopieren von Papierdokumenten konnte sehr aufwendig sein, wenn diese viele Seiten umfassten. – Bei einer Datei spielt die Größe kaum eine Rolle beim Kopiervorgang.
- Leitz- oder Hängeordner waren in ihrer Kapazität beschränkt. In einen 61mm- Leitzordner passten ca. 500 Blatt. War der Ordner voll, musste ein neuer begonnen werden. War das Regal voll, bestand Handlungsbedarf. – Windows-Ordner werden nie voll, sie wachsen ohne Ende.
- Das gilt auch für die Schachtelungstiefe. Papierordner kann man mit Einlegeblättern und zusätzlich noch mit Pappzungen unterteilen – noch feiner geht keine Untergliederung mehr in der Praxis. Windows-Ordner können mittlerweile unendlich tief geschachtelt werden (das Maximum, das wir bei einer Bundesbehörde vorfanden, war die Ebene 21).
- E-Mails können schnell geschrieben und noch schneller versendet werden. Man kann straflos beliebig viele Empfänger in CC nehmen.
Was hat’s gebracht?
Im Endeffekt bezweifeln viele Forscher, dass diese Form der Digitalisierung zu einem Produktivitätsfortschritt geführt hat.
Abbildung 2 zeigt die Auswertung des E-Mail-Servers eines Landratsamtes /1/.

Die Zahl der E-Mails ist gigantisch und die Beschäftigung mit ihnen nimmt einen großen Teil der Arbeitszeit in Anspruch. In unserem Beispiel waren 48% der E-Mails intern versendet worden, von Kollegen an Kollegen – schätzungsweise 6,6% der Arbeitszeit wurden allein dafür verwendet.
Das bedeutet für die Einführung der E-Akte nichts Gutes.
Wenn sich ihr innovativer Anspruch – so wie beim beschriebenen ersten Schub der Digitalisierung – darauf beschränkt, „nur“ alles noch schneller und reibungsloser zu gestalten;
wenn die Paradigmen unserer Büroprozesse nicht einmal aus gehörigem gedanklichen Abstand und ganz grundsätzlich auf den Prüfstand gestellt werden;
dann, ja dann – wird die E-Akte einen immensen Aufwand an Geld und personellem Engagement bedeuten, ohne dass ein nachvollziehbarer Nutzen zu erwarten ist.
Anmerkungen
/1/ Die Daten sind anonymisiert und auf 1.000 Mitarbeiter normiert. Sie stammen aus dem Jahre 2010, als die Spamfilter noch weniger externe Mails abfingen.
Hat dies auf Toms Gedankenblog rebloggt.
LikeLike