Theoretisch könnten es sich Archivare auf den ersten Blick gesehen leicht machen. Schriftgutverwaltung ist zumindest nicht direkt Teil ihres gesetzlichen Auftrags. Unmittelbare negative Folgen einer defizitären Schriftgutverwaltung, wie verlängerte Entscheidungsprozesse, erschwertes Arbeiten, fehlende Rechtssicherheit und Auskunftsfähigkeit oder kurz die Entstehung eines Negativklischees, wie z.B. dem Bild einer lahmen oder gar inkompetenten Behördenmühle, ist ausschließliches Problem der aktenführenden Stellen und des Archivträgers.
Sogar dem zweiten Blick könnte diese Einstellung standhalten. Angesichts vorhandener unbearbeiteter analoger Aktenberge und steigender fachlicher Querschnittsaufgaben (Digitalisierung von Archivgut, Notfallprävention, Personalmanagement etc.) sichern mehr als genug dringliche Tätigkeiten eine Beschäftigung für die kommenden Jahrzehnte.
Allerdings sind Archive in der Praxis auf gut geführte Akten angewiesen, wenn sie ihren Auftrag nachhaltig erfüllen wollen. Dieser liegt verkürzt dargestellt darin, „für Nachvollziehbarkeit von behördlichem Handeln und für Verständnis von historischen Prozessen“ /Anmerkung 1/ zu sorgen. Versäumen es Archivare, sich für die digitale Zeit zu rüsten, droht ihnen eine Existenz als historisches Archiv mit gleichfalls „historisch“ erscheinenden Mitarbeitern, die dem Klischee entsprechend staubige Aktenberge verwahren. Auch wenn diese Perspektive an manchen Tagen sehr erfüllend scheint, passt sie nicht zu dem Bestreben, eine moderne und zukunftsfähige Institution innerhalb der eigenen Verwaltung zu sein.
Normative Voraussetzungen
Ein Blick in die Archivgesetze zeigt, dass zumindest den meisten Archiven eine beratende Funktion im Bereich der Schriftgutverwaltung zugeschrieben wird. /Anmerkung 2/ Aktuell reicht dies von einer Kann-Bestimmung, wie z.B. „Das Landesarchiv erfasst die Unterlagen bei den Behörden, Gerichten und sonstigen Stellen des Landes und kann diese bei der Verwaltung Schriftgut und anderen Unterlagen beraten“ ( LArchG §2. Abs. 1) bis hin zu sehr differenzierten Formulierungen, wie die „…die Einbeziehung des Archivs bei der Einführung neuer Systeme der Informationstechnologie insbesondere zur Führung elektronischer Akten…“ (BArchG §3 Abs. 4) festlegen. Die normative Erweiterung der archivischen Kompetenzen im Bereich der Schriftgutverwaltung weist auch darauf hin, dass zunehmend Archive in diesem Bereich tätig werden. Dass eine entsprechende Verankerung in der Norm eine notwendige Voraussetzung bildet, um über die praktische Arbeit hinaus z.B. auch entsprechende Ressourcen zu erhalten, soll ebenfalls erwähnt werden.
Aktenmäßigkeit zwischen Realität und Anspruch
In der Übernahmepraxis zeigt sich zunehmend, dass man vom Prinzip der Aktenmäßigkeit innerhalb von Verwaltungshandeln nicht mehr ausgehen kann und sich die Funktion der Akte drastisch geändert hat. Aus der ursprünglichen Eigenschaft, eines adäquaten Steuerungsmittels wurde eine lästige Pflichtaufgabe, der zusätzlich zum Tagesgeschäft nachgekommen werden muss oder besser formuliert müsste? Im Ergebnis bedeutet es, dass fragmentierte Informationen in unterschiedlichen Systemen anstelle von gebündelten Informationen im einheitlichen Medium Akte vorherrschen: Verwaltungen fehlt der Gesamtüberblick über ihre Akten. Schon die Begriffe Aktenplan und Aktenverzeichnis sagen den meisten hier Tätigen nichts mehr. Nur wenige verfügen über eine Gesamtstrategie für ihre Aktenführung. Diese wird bevorzugt den Sachbearbeitern überlassen, die mangels verbindlicher Vorgaben und ausbleibender Qualitätssicherungen stark individualisiert arbeiten (Gillner, S. 40). Standardkonformes Verhalten wird dabei sicher nur selten berücksichtigt. Im Ergebnis wird Verwaltungshandeln somit von individuellen Arbeitspraktiken bestimmt, deren Folge oft, vorsichtig ausgedrückt, „kreative digitale Ablagen“ sind. /Anmerkung 3/
Auch wenn das Bedürfnis nach Prozesssteuerung groß ist, werden dafür bevorzugt „Insellösungen“ wie einzelne Fachanwendungen etc. genutzt. /Anmerkung 4/ Ein Grund scheint mitunter in der vergeblichen Hoffnung zu liegen, dass „moderne Technik“ lösen wird, was organisatorisch versäumt wurde.
Records Management als Notwendigkeit!
Zunehmend agieren Archivare aktiv innerhalb der Schriftgutverwaltung und somit innerhalb des Verwaltungshandelns. /Anmerkung 5/ Ziel ist, Sachbearbeiter dorthin gehend zu schulen, dass sie vollständige und somit standardkonforme Akten auch in elektronischer Form erstellen und diese, gemäß der gesetzlich geregelten Aufbewahrungsfristen und der Anbietungspflicht dem zuständigen Archiv auch übergeben.
Dass den Archive die Aufgabe des Records Managemnt zukommt, hängt auch damit zusammen, dass das einst fest etablierte Wissen um Schriftgutverwalung zunehmend verschwindet. Vielfach verschwanden diese Inhalte aus den Rahmenlehrplänen/Curricula der Verwaltungsausbildung. Somit verfügen mitunter nur noch Archivarinnen und Archivare über die notwendigen Kompetenzen
Records Management als Chance?
Die Bereitschaft von Archiven, ihre Fachlichkeit im Records Management einzubringen, bietet zahlreiche Vorteile, wenn letztendlich eine geordnete elektronische Schriftgutverwaltung entsteht. Anstelle von unstrukturierten Dateiablagen, die mit hohem manuellen Aufwand archiviert werden müssten, bieten sich erhebliche Automatisierungs- und Rationalisierungsmöglichkeiten. So können Übergabe- und Kassationslisten auf Knopfdruck erstellt werden. Metadaten, wie die Aktenlaufzeit, der Titel, ggf. auch Adressen etc., können innerhalb der Erschließung weiterverwendet werden. Eine Bewertung kann ortsunabhängig durch Anklicken der elektronischen Unterlagen erfolgen. Elementar ist jedoch auch, dass mitunter das Archiv mit kompetentem Auftreten sein Ansehen innerhalb der Verwaltung verbessern kann. Erstreckt sich diese Tätigkeit des Archivs auch auf ein elektronisches Zwischenarchiv, so ist der Mehrwert für die Verwaltung des Archivträgers unmittelbar zu spüren.
Demgegenüber stehen bei unstrukturierten Dateisammlungen hohe Arbeitsaufwände bei der Übernahme und Bewertung, die mitunter von Archiven personell nicht geleistet werden können, so dass umfangreiche Informationsverluste langfristig zu erwarten sind. Selbst eine Komplettarchivierung, die zunächst das Risiko eines Informationsverlusts zu minimieren scheint, provoziert neben hoher Speicherkosten Probleme, wie unmögliche Verarbeitung der sehr unterschiedlichen Dateiformate, Sicherheitsrisiken, der Umgang mit verschlüsselten Unterlagen etc.
Das Fazit für Archive lautet, dass ihnen erst die sprichwörtlichen „gebratenen Tauben“ in den Mund fliegen können /Anmerkung 6/ wenn die vorgeschaltete Verwaltung in strukturierten Prozessen arbeitet und ablegt. Bis dahin gleicht das Arbeitsvolumen von Übernahmen, um bei den Tauben zu bleiben, eher dem Schicksal von Aschenputtel.
Anmerkungen
/1/ Ein Großteil des Beitrags basiert auf der Publikation von: Gillner, Bastian: Good Governance als Kollateralnutzen oder: Wie Archive mit der E-Akte Verwaltungshandeln und Überlieferung verbessern können, in: Deutscher Archivtag 88 (2018) in Rostock: Verlässlich, richtig, echt–Demokratie braucht Archive!, Fulda 2019, S. 39-50, hier S. 41.
/2/ Über die Verlinkung der Archivschule Marburg ist eine Vielzahl unterschiedliche Archivgesetze und -normen gelistet. URL: http://m.archivschule.de/DE/service/archivrecht/ (Zugriff 23.01.2020).
/3/ Naumann, Kai/Puchta, Michael (Hg.): Kreative digitale Ablagen und die Archive. Ergebnisse eines Workshops des KLA-Ausschusses Digitale Archive am 22./23. November 2016 in der Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns, in: Sonderveröffentlichungen der Staatlichen Archive Bayerns, Nr. 13, München 2017. URL: https://www.gda.bayern.de/fileadmin/user_upload/Publikationen_PDFs/Sonderpublikationen/Kreative-Ablagen-Heft12oM.pdf (Zugriff 20.01.2020).
/4/ Ernst, Katharina: Welche Zukunft hat di eAkte? In: Deutscher Archivtag 85 (2015) in Karlsruhe: Transformation ins Digitale, Fulda 2017, S. 67-75.
/5/ Zu nennen sind hier exemplarisch die wegweisenden Anstrengungen des Landesarchiv Nordrhein-Westfalens und des Stadtarchivs Mannheim. URL: http://www.archive.nrw.de/lav/Beratung-E-Government/index.php https://www.marchivum.de/de/information/services/schriftgutverwaltung (Zugriffe 27.01.2020).
/6/ Thiemann, Katharina/Worm, Peter: „Auf dass uns die gebratenen Tauben in den Mund fliegen!“: Übernahmestrategien für die eAkten des LWL, in: Deutscher Archivtag 87 (2017) in Wolfsburg: Massenakten–Massendaten, Fulda 2018, S. 17-26.