Aus der agilen Methodenkiste: Ein Beispiel für einen Projekt-Canvas

Agile Projektphilosophie versucht nicht, die Komplexität von Projekten zu reduzieren, sondern sie zu akzeptieren und mit ihr umzugehen. Eine der Methoden, mit denen sich das Projektteam zu Projektstart (und danach immer wieder) ein gemeinsames Bild von der Komplexität machen kann, stellt ein Projekt-Canvas dar.

Canvas – ein nicht-lineares Bild von nicht-linearen Strukturen

Wir nennen Fragestellungen dann komplex, wenn sie ein großes Maß von Unsicherheit beinhalten. Diese Unsicherheit kann von außen kommen, von einer „volatilen“ Umgebung, die alle Projektplanungen immer wieder über den Haufen zu werfen droht. Noch häufiger aber kommt sie aus dem Innern des Projekts, nämlich aus den Wechselwirkungen und Rückkoppelungen der Faktoren, die die Fragestellung definieren. Es ist wie bei einem Mobile, das wir an einem Teil in Bewegung setzen. Und dieses Teil bewegt drei andere Teile mit und die neun weitere Teile, von denen vier wieder auf das erste zurückwirken usw. Man kann diese Bewegungen nicht wirklich vorausberechnen, wohl aber Muster erkennen.

Ein Mobile ist eine komplexe Struktur. Bewegt man ein Teil, so werden die anderen Teile ebenfalls in Bewegung gesetzt. Diese Folgebewegungen kann man nicht vorausberechnen, weil es sich um Rückkoppelungen von Rückkoppelungen von Rückkoppelungen handelt.

Und darum geht es bei einem Canvas. Es stellt die Faktoren der Projektherausforderung optisch dar und ist immer zweidimensional. Das unterscheidet es von einer linearen Darstellung, wie man sie häufig in „Projektsteckbriefen“ finden, in denen man nacheinander einen Katalog von Fragen ausfüllen soll:

  • Zweck
  • Projektkunde
  • Ergebnis
  • Etappenziele
  • Zeithorizont
  • Budget
  • Team
  • Stakeholder
  • Risiken und Chancen

Diese Themen kommen in einem Canvas auch vor, aber in Form einer Fläche. In der Abbildung seht ihr das Canvas-Modell 2C-VAU von Veronika Lévesque.

Ein Links zum Download dieses Canvas 2C-VAU findet ihr unten am Ende des Posts.

Die Projektfragestellungen wie oben tauchen im Canvas auch auf, aber nicht in einer vordefinierten Reihenfolge. Das hat zur Folge, dass die einzelnen Elemente anfangen, vor den Augen des Betrachters miteinander zu agieren. Es ist nicht so, dass A auf B folgt, dass man erst den Zweck und dann den Projektkunden bestimmen muss. Sondern vielleicht merkt man ja, dass – wenn man A, C und E besprochen hat – auf einmal E auf A zurückwirkt und daraus wieder ein anderes C resultiert und auf einmal taucht da D auf …

Anwendung in der Praxis

Ein Canvas kann erst einmal zur Initialisierung eines Projekts dienen. In der Vorbereitung wählt der Moderator ein Canvas-Modell aus, das ihm zusagt (es gibt eine ganze Reihe von Project Canvas‘ unter Commons Licence im Netz). Dann druckt er das Canvas aus, möglichst auf A0, und hängt es an die Wand im Workshopraum. (Mit dem Ausfüllen von Canvas‘ in Webkonferenzen habe ich bisher keine Erfahrungen.) Möglichst viele verschiedene Projektbeteiligte sollten dabei sein – um so mehr Sichten werden klar und die verschiedenen Arten von Wechselwirkungen. Wenn der Auftraggeber des Projekts mitmachen will oder Vertreter künftiger Anwender des Projektprodukts – umso besser.

Ab diesem Punkt gibt es verschiedene Methoden, ein Canvas zu be-er-verarbeiten. Der Moderator kann die Reihenfolge der Punkte vorschlagen, an denen die Gruppe sich entlanghangelt. Das wäre dann ein linearer Weg, das nicht-lineare Modell mit Inhalten zu versehen. Oder – und das liegt mir persönlich mehr – er lässt die Teilnehmer zu Beginn nur einen Titel für das Projekt finden und Fragen zum Verständnis der Faktoren klären. Und dann beginnt jeder Teilnehmer damit, seinen eigenen Weg durch die Canvas-Landschaft zu erkunden und auf Post-It’s seine Antworten zu notieren.

Ein Canvas aus einer Werkstatt zum Start eines Digitalisierungsprojekts.

Und der Moderator ermutigt die Teilnehmer, einen Gedanken sofort auf das Canvas zu heften, wenn er ihn niedergeschrieben hat (also möglichst nicht zu warten, bis er zehn Zettel hat). Denn so kommt die Gruppe zu einer sehr spannenden Interaktion „zweiter Stufe“: nämlich zu einer Interaktion mit den Interaktionswahrnehmungen der anderen. Und weitere Klärungen der auf dem Canvas gestellten Fragen finden statt („der Zettel da gehört doch da oben hin! Oder?“). Bewertungen, die auf den Notizen auftauchen, können auf Beobachtungen hin abgeklopft und so vertieft werden.

Erst dann, wenn die Gruppe einen ersten Aufschlag erstellt hat, lade ich sie zu einer Systematisierung ein: Wo gibt es Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Vorschlägen? Gibt es Fragestellungen, die noch gar nicht beantwortet wurden? Usw.

Aber – und das wird dem Team mit dieser Methode sofort sinnlich erfahrbar – es gibt keine „endgültige“ Systematisierung. Das Canvas lebt. Es kommt an einen prominenten Raum in das Projektbüro und wird bei jeder sich anbietenden Gelegenheit – z.B. wenn neue Mitglieder ins Team kommen oder bei Meetings mit benachbarten Projekten – verändert, ergänzt oder auch ausgedünnt.

Download

Hier könnt ihr das Canvas 2C-VAU herunterladen:

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

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