Mein Thema ist: Kommunikation im Team. Welche Sprachmuster wenden wir bisweilen an – meist unbewusst – und welche Wirkung haben sie auf das Wohlbefinden im Team?
Google hatte im Jahr 2012 eine große Untersuchung gestartet, um herauszufinden, welche Faktoren im eigenen Unternehmen zu optimal leistungsfähigen Teams führen. /Anmerkung 1/ Bei dieser Untersuchung wurden – nein, nicht Dutzende, dann wäre es nicht Google – Hunderte von Faktoren in den Blick genommen. Unter anderem die Zusammensetzung der Teams nach Geschlechtern, nach Alter, nach Verweildauer im Unternehmen, nach Vorbildung, nach Freizeitaktivitäten, ob die Teams sich auch nach der Arbeit trafen oder nicht – man kann die Faktoren hier wirklich nicht alle aufzählen. Wer wäre besser als Google geeignet, eine solche multifaktorielle Analyse auszuführen? Aber heraus kam: nichts.
Der entscheidende Teamfaktor
Es gab Teams, die beispielsweise viel Freizeit miteinander verbrachten und die trotzdem bei der Arbeit nicht besonders produktiv waren. Es gab andere Teams, bei denen jeder nach der Arbeit stracks nach Hause ging, die also im privaten Bereich gegenseitige Distanz hielten, bei denen aber die Rädchen im Arbeitsgetriebe geräuschlos und schnell ineinander griffen. Woran mochte es also liegen?
Ende 2014 versuchte dann eine Projektbeteiligte einen neuen Ansatz. Sie untersuchte das Sprechverhalten der Mitglieder im Team. Dabei fand sie heraus, dass es einen ganz wichtigen Indikator gab, um die Zufriedenheit oder gar das Glücksgefühl in einem Team zu bestimmen. Es gab Teams, bei denen ein, zwei oder drei der Mitglieder über 50 % des Sprechanteils auf sich vereinten und jedes einzelne der übrigen Teammitglieder kaum zu Wort kam.
Auf dem anderen Ende der Skala gab es Teams, in denen am Ende einer Besprechung jedes Teammitglied in etwa gleich viel Redezeit beansprucht hatte. Und zwischen diesen beiden Extremen lag natürlich ein ganzes Kontinuum von Übergängen.
Hier auf einmal zeigte dieser neue ins Spiel gebrachte Faktor ganz deutliche Wirkung. Teams mit gleich verteilten Redeanteilen waren signifikant produktiver als diejenigen, in denen die Redemachtverhältnisse ungleich verteilt waren.
Wie man seine Teamerfahrungen ohne Aufwand checken kann
Nachdem ich diesen Artikel gelesen hatte, habe ich es mir zur regelmäßigen Beschäftigung gemacht, in Meetings die Redeanteile für mich nebenbei auf einem Stück Papier zu protokollieren. Das ist ja der Vorteil von Corona, dass in einem Online-Meeting niemand sieht, wenn jemand nebenbei etwas mitkritzelt. Und ich habe im Anschluss immer notiert, wie zufrieden ich selbst subjektiv in und nach dem Meeting war.
Ich merkte, dass diese Zufriedenheit daran gekoppelt war, ob ich mich gehört gefühlt hatte, ob ich einen positiven Beitrag hatte leisten können oder nicht. Es gibt Teams, auf deren Sitzungen freue ich mich, auch wenn sie online stattfinden in den Coronazeiten. Und es gibt andere Meetings, auf die ich äußerst ungern gehe, weil ich schon weiß, wie einige selbsternannte Alphatiere die Besprechung wieder dominieren werden.
Die Sprechart beim Reden über Fakten
Dabei ist mir etwas aufgefallen. Nämlich: wie sprechen denn die Alphatiere? Wie schaffen sie es, sich ihre Redeanteile an Land zu ziehen? Dafür gibt es eine sehr häufige Technik.
Diese Technik beruht auf dem tertium non datur. „Tertium non datur“ kommt aus der Mathematik und bedeutet „eine Behauptung ist entweder wahr oder falsch – eine dritte Möglichkeit gibt es nicht“. Die Behauptung
1+3 = 5
stimmt oder sie stimmt nicht. Schnelles Checken auf der „Rechner-App“ ergibt
1+3 = 4
und daraus folgt
„Die Behauptung 1+3 = 5 ist falsch.“
Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Tertium non datur. Mal alle Fünfe gerade sein lassen – ist in der Mathematik nicht zulässig.
Dieser Grundsatz ist eine Basis nicht nur der Mathematik, sondern der gesamten westlichen Philosophie seit der Antike. /Anmerkung 2/ Das Tertium non datur bildet auch die Basis der Naturwissenschaft. Die Erde kreist um die Sonne, oder sie tut es nicht. Genau eines von beiden ist wahr, das andere ist falsch. Eine dritte Möglichkeit gibt es nicht. Insbesondere kann die Erde nicht gleichzeitig um die Sonne kreisen und die Sonne um die Erde. Es gibt eine Wahrheit, diese Wahrheit ist eindeutig, und es ist das Ziel der Menschheit, diese eindeutige Wahrheit zu finden.
Es kann also sein, dass es zwei Fraktionen gibt, von denen die eine die Erde im Mittelpunkt des Universums sieht und die andere die Sonne. Aber irgendwann wird sich die einzige Wahrheit herausstellen, und damit hört die Fraktionsbildung auf. Die Menschheit ist sich wieder einig.
Das Abwägen von Entscheidungen
Dieser Grundsatz, in Mathematik und Naturwissenschaft geboren, ist unverzichtbar, wenn es um Behauptungen über Fakten geht. Aber er ist ungeheuer schädlich, wenn er auf Fragen des Sollens angewendet wird. Das ist regelmäßig der Fall, wenn im Team eine Entscheidung getroffen werden soll: „Was wollen wir als nächstes tun? Sollen wir die nächste Konferenz wieder als Online-Meeting planen? Oder sollen wir es riskieren, in Richtung Präsenzveranstaltung zu gehen, weil alle die Nase voll haben von den Distanzmeetings?“
Wenn Entscheidungen anstehen, dann gibt es kein absolutes „Wahr“ oder „Falsch“. Es geht um das Abwägen verschiedener Möglichkeiten. Und damit kommen unterschiedliche Sichtweisen, Erfahrungen aus der Vergangenheit, Charaktere, Haltungen, Werte, Glaubenssätze ins Spiel, die man nicht einfach bewerten kann. Ich ertappe mich regelmäßig beim Bewerten. „Warum lehnt sie so kategorisch eine Präsenzveranstaltung ab? Ich finde sie wirklich übertrieben ängstlich! Man muss sich doch auch mal trauen, ein Risiko einzugehen.“ – So geht es mir häufig in Diskussionen.
Aber damit schneidet man sich von der eigentlichen Bereicherung ab, die eine ausführliche Entscheidungsfindung in der Gruppe so spannend macht. Wer hat welche Erfahrungen gemacht? Welche Werte werden in der Runde vertreten? Kann man sie unter einen Hut bringen? Und wenn nicht – treffen wir eine Mehrheitsentscheidung oder vertagen wir uns noch einmal?
Das Tertium non datur ist nicht anwendbar.
Möglichkeitsräume einengen oder ausweiten?
In Diskussionen über Fakten geht es darum, den Möglichkeitsraum einzuschränken. Kreist die Sonne um die Erde oder ist es andersherum? Wir forschen und irgendwann sind wir uns einig (bis auf einen Rest von 0,001%, denen Fakten egal sind). Aus zwei Möglichkeiten ist eine geworden.
Bei der Entscheidungsfindung ist es umgekehrt. Wir versuchen, Möglichkeitsräume zu öffnen. Also die Phantasie, was künftig alles möglich und wünschenswert wäre, anzuregen und ganz viele künftige Weltzustände in den Blick zu nehmen. Um so größer wird dann die Wahrscheinlichkeit, dass wir eine begeisternde Zukunftsvision daraus erbauen können, die uns den nötigen Schub zum Handeln gibt.
Wie man andere zum Verstummen bringt
Aber natürlich geht es bei Entscheidungen auch immer um Macht. Das kann hierarchische Macht sein oder auch informelle Macht. Und zur informellen Macht gehört der Einsatz von rhetorischen Mitteln, wie zum Beispiel das Tertium non datur.
Nehmen wir als Beispiel die Frage, in welchem Format unsere nächste Konferenz stattfinden soll. Ich hätte folgende Möglichkeiten, meine Meinung in der Teamdiskussion zu äußern:
a) „Nach all den Erfahrungen in der Coronapandemie müssen wir jetzt Präsenz machen. Dazu gibt’s keine Alternative.“
b) „Ich finde, Präsenz ist die einzige Möglichkeit, um potenzielle Teilnehmer:innen zu interessieren.“
c) „Eine Webkonferenz ist völlig inakzeptabel. Davon haben alle die Nase voll. Soweit mal meine 50 Cent.“
d) „Ich habe den Eindruck, dass viele potenzielle Teilnehmer:innen von den dauernden Webkonferenzen total erschöpft sind. Vielleicht kann eine Präsenzveranstaltung mal wieder einen neuen Akzent setzen.“
Und natürlich gibt es noch 99 andere Möglichkeiten. Aber schon an diesen vier Beispielen wird deutlich: ich kann meine Meinungsäußerung für die anderen Teammitglieder anschlussfähig machen, also zur Antwort und zum gemeinsamen Spinnen einladen. Oder ich kann mehr oder weniger hohe Hürden davor aufbauen, dass jemand eine andere Antwort als ich äußert. Zurückhaltende Teilnehmer:innen, die die eigene Meinung eher 10 Mal überprüfen, ob sie auch stichhaltig ist, werden sich eine Replik dann eher verkneifen.
Auch Schweigen kann übrigens eine Tertium-non-datur-Methode sein. Ein Kollege sagte mir vor einiger Zeit, nachdem wir gemeinsam in einer Videokonferenz waren: „Ich habe zwei konkrete Vorschläge geäußert, und niemand hat darauf geantwortet. Offene Kritik vertrage ich, aber dieses Ignoriert-Werden ist nicht zum Aushalten. Gott sei Dank ist die Arbeitsgruppe freiwillig, da brauche ich in Zukunft nicht mehr hinzugehen.“
Damit sind wir wieder am Anfang: die rhetorische Figur des Tertium non datur beruht auf der Vorstellung, es gehe bei Zukunftshandlungen um „objektiv richtige“ Entscheidungen – bei denen sich die einzig wahre Möglichkeit gegen die anderen, falschen durchsetzen muss. Weil es dafür aber gerade keine empirischen Methoden der Wahrheitsfindung wie in den Naturwissenschaften gibt, wird die Diskussion zu einem Machtkampf. Es geht um das Sich-Durchsetzen gegen die anderen.
Wer dabei als Sieger vom Platz geht, mag sich wohlfühlen. Aber es ist fraglich, ob das Team produktiv werden kann.
Anmerkungen
/1/ Charles Duhigg: „What Google Learned From Its Quest to Build the Perfect Team“, New York Times, 25.02.2016
/2/ Die japanischen Wissenschaftler Nonaka und Tageuchi haben in einer sehr gründlichen Studie darauf hingewiesen, wie stark sich dieser Grundsatz von der östlichen Philosophnie unterscheidet. Ikujiro Nonaka, Hirotaka Takeuchi, et al.: Die Organisation des Wissens: Wie japanische Unternehmen eine brachliegende Ressource nutzbar machen, 2012.
Sehr interessanter Gedanke mit simpler Lösung! Ich habe nicht verstanden, wie die wissenschaftliche Grundlage zum Sprechanteil = Zufriedenheit = Effektivität ist? Kennst du dazu Studien? Besonders freue ich mich über englische/internationale Studien 🙂
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Wolf Steinbrecher: „natürlich geht es bei Entscheidungen auch immer um Macht“
Immer ?
Es ist eine Frage der Geistigen Reife und eine Unterfrage des Selbstwert-Gefühls der Beteiligten.
Der Begriff Macht ist nur dann relevant, wenn jemand absichtlich oder unbewußt Macht ausüben will. Ansonsten ist er hier irrelevant.
Das sich in den Vordergrund drängen oder Recht haben müssen ist keine Frage der Macht, sondern eine der Unreife.
Die Reife der Übrigen ermöglicht die Klärung.
Eine heitere 🌾
Zwischenzeit
wünscht Nirmalo
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Wolf Steinbrecher: „Die Erde kreist um die Sonne, oder sie tut es nicht. Genau eines von beiden ist wahr, das andere ist falsch.“
Tertium non datur.
In der Quantenphysik mußte man sich schmerzlich von diesem Satz verabschieden.
🌿
Wolf Steinbrecher: „Dieser Grundsatz ist eine Basis nicht nur der Mathematik“
Die Mathematik ist ein abgezirkeltes System mit klaren Regeln. Hier mag der (Grund-)Satz zutreffen.
Aber wie alle Grundsätze, trifft auch
dieser… nicht immer und überall zu.
🌿
Wolf Steinbrecher: „Es gibt eine Wahrheit, diese Wahrheit ist eindeutig, und es ist das Ziel der Menschheit, diese eindeutige Wahrheit zu finden.“
Aber vielleicht… müssen wir auch gewahr werden, daß
die Aussage, es gäbe nur eine Wahrheit, nicht wahr ist.
🌿
Wolf Steinbrecher: „irgendwann wird sich die einzige Wahrheit herausstellen, und damit hört die Fraktionsbildung auf. Die Menschheit ist sich wieder einig.“
Einigkeit und Mehrheit sind
keine Garanten für Wahrheit.
Wahrheit hat nichts mit Menge
oder mit Zustimmung zu tun.
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Wolf Steinbrecher: „Wenn Entscheidungen anstehen … Das Tertium non datur ist nicht anwendbar.“
So is. Denn das Leben ist komplex und nicht linear, wie der logisch funktionierende Verstand es gerne hätte.
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Danke für diesen Beitrag, der bis auf die „selbsternannten Alpha-Tiere“ von Sachkenntnis und Selbstreflexion geprägt ist. Wie oft wir, auch ganz bewusst rhetorisch um die Macht „kämpfen“, beweist der Autor hier sehr überzeugend.
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