Ideen aus der Welt der Bücher: Muss der Kapitalismus sterben, damit die Erde überlebt?

In den letzten Monaten sind mehrere Bücher auf den Markt gekommen, die sich ganz grundsätzlich mit der Frage beschäftigen: „Wie tief müssen die Einschnitte in unsere Lebensweise ausfallen, damit ein Stopp des Klimawandels möglich wird?“ Es seien hier nur die Bücher von Maja Göpel „Wir können auch anders. Aufbruch in die Welt von morgen“ oder von Moritz Schularick „Der entzauberte Staat“ genannt. Und nun ist Anfang September 2022 ein neues Buch herausgekommen, das diese Frage am tiefschürfendsten von allen Publikationen angeht: „Das Ende des Kapitalismus“ von Ulrike Herrmann. Die Autorin ist Wirtschaftsredakteurin bei der taz und damit nicht dem extrem linken Meinungsspektrum zuzuordnen. Wie kommt sie trotzdem zu radikalen Antworten? Und was hat das mit agiler Verwaltung zu tun?

Die Ausgangsfragen des Buches

Den Menschen, die sich aktiv an der klimapolitischen Diskussion beteiligen, ist ein Widerspruch bewusst: „Unsere globalisierte, kapitalistische Markwirtschaft braucht Wachstum, und dieses Wachstum bedeutet bislang immer steigende Ressourcenausbeutung. Diese aber wiederum führt zu Klimawandel und Artensterben.“ Und daraus resultiert die Frage: Wie kann man „grünes Wachstum“ organisieren? Also ein Wachstum, das nicht mehr an einen steigenden Rohstoffverbrauch gekoppelt ist, sondern umweltverträglich gezähmt wird. Und viele Wissenschaftler und Unternehmer und Politiker und Autor:innen versuchen sich an Lösungsvorschlägen, um aus dem Dilemma herauszukommen.
Dieser Frage geht auch Ulrike Herrmann nach. Aber sie beantwortet sie ganz anders als (nach meiner Kenntnis) alle anderen Bücherschreiber. Ihre Antwort lautet nämlich: „Gar nicht. Es gibt kein grünes Wirtschaftswachstum. Es kann ein grünes Wirtschaften geben in Form von produktiven Kreislaufprozessen. Aber das kann die kapitalistische Marktwirtschaft nicht organisieren.“

Warum ist das Buch für eine agile Verwaltung relevant?

Auf diese Frage gibt es nur subjektive Antworten. Für mich ist die „agile Transformation der öffentlichen Verwaltung“ (mir widerstrebt das Wort „Transformation“, aber ich füge mich pragmatisch dem weit verbreiteten Wording) – für mich besteht diese Veränderung nicht nur in der Anwendung dieser oder jener Methode in unseren Behörden. Auch nicht, wenn sie mit einem total coolen und innovativen „Mindset“ verbunden ist. Für mich ist die Rolle der Agilität, ihr „Scope“, viel größer.
Ich versuch mal kurz und arrogant zu formulieren: Für eine Verwaltung, die sich den gigantischen Überlebensaufgaben der Gesellschaft stellen will, stellt Agilität das Betriebssystem dar. Ein Betriebssystem ist bekanntlich keine ‚App‘. Analog trifft Agilität keine Aussage, wie man konkret den Klimawandel bekämpft – ob E-Autos eine Lösung oder Teil des Problems sind. Diese konkreten Themen wären auch auf diesem Blog fehl am Platze. Aber Agilität stellt die Frameworks und die Methoden und vor allem die Reflexionsräume bereit, mit denen man diese Fragen überhaupt erfolgversprechend anpacken kann. Und zwar gerade, weil die zu erwartenden Disruptionen in der Gesellschaft so tiefgreifend sind, dass ein einfaches „Weiter-so“ ihnen überhaupt nicht gerecht wird. Schon meine Formulierung „zu erwartende Disruptionen“ führt in die Irre: nicht zu erwartende, sondern proaktiv zu organisierende Disruptionen sind das Gebot der Stunde. Wie soll das funktionieren, ohne mit der reaktiven Denkweise in der Verwaltung und den Wasserfallmethoden der öffentlichen Projekte aufzuräumen? Soll das Modell des Oooh-Zett-Gehstümperes weiter Schule machen?
Weil es den gigantischen Umfang unserer Herausforderungen schonungslos belegt und unsere Illusionen von einer gemütlichen Weiter-so-Gangart platzen lässt (die Lektüre des Buchs empfand ich nicht als angenehm) – gerade darum liefert das Buch Anhaltspunkte, was den Umfang unserer Aufgaben als „Agilisten“ angeht. Und es stärkt uns, weil es zeigt, dass die dynamischen Kräfte in der Gesellschaft unsere Art von Verwaltung dringend brauchen.

Wie das Buch seine Themen behandelt

Die Autorin argumentiert in drei Schritten:

Argument 1: Kapitalismus bedeutet Wachstum

Das Buch beginnt mit einer überaus positiven Darstellung der Errungenschaften, die die kapitalistische Marktwirtschaft in den letzten 250 Jahren gebracht hat. Ulrike Herrmann ist durchaus keine prinzipielle Gegnerin des Kapitalismus, sondern erkennt seine positiven Seiten an.
Aber was sie hauptsächlich beweisen will, ist: Kapitalismus ist immer mit Wachstum verbunden. Kapitalismus ist nicht gleich „Marktwirtschaft“. Marktwirtschaft gab es schon vorher; das Römische Reich war auch eine Marktwirtschaft, die römischen Villae produzierten landwirtschaftliche Güter für den Markt. Aber es war keine Wachstumsökonomie. Was die moderne, „kapitalistische“ Marktwirtschaft von der römischen unterscheidet, ist der Kredit: Investitionen werden mit Krediten finanziert. Sie müssen zurückgezahlt werden, und das geht nur bei wachsender Produktion. (Wen das genauer interessiert, lese die Seiten 85-96). Und der Maßstab des Wachstums ist im Wesentlichen das, was man heute als Bruttoinlandsprodukt (BIP) bezeichnet: die Summe der erzeugten Waren, in Geldeinheiten, inflationsbereinigt.

Argument 2: Wachstum bedeutet steigenden physischen Ressourcenverbrauch

Das Argument 1 ist quasi eine mathematische Formel, die man beweisen kann. Das Argument 2 von Ulrike Herrmann ist empirisch, beruht also zum Teil auf Hypothesen über die Zukunft. Es besagt: „Steigendes BIP ist immer auch an steigenden Verbrauch an Naturressourcen gekoppelt.“
Viele grüne Umweltschützer verwenden den Begriff des „grünen Wachstums“. Dahinter steckt die Vorstellung, dass man das Wachstum in Geldwerten „entkoppeln“ könne vom Raubbau an der Natur. CO2-erzeugende Produktionsverfahren werden ersetzt durch andere, rein auf Wasser, Windkraft, Sonne beruhender Energie. Die erzeugten Güter seien immaterieller Natur, also digitale Dienstleistungen, mehr menschliche Fürsorge und Entwicklung (Bildung, Gesundheit, Pflege) usw.
Herrmann geht jeder einzelnen dieser Vorstellungen nach und sticht in sie hinein wie mit einer Nadel in einen Ballon, bis sie zerplatzen. Für mich als jemand, der die einschlägigen Papiere von Klimakonferenzen, Think Tanks und Klimaschützern nie im Original gelesen hat, war es erschreckend zu erfahren, auf wie vielen unbewiesenen Annahmen und Hoffnungen auf noch nicht entwickelte Technologien viele dieser Hoffnungen beruhen.
Herrmann will nicht beweisen, dass eine grüne Wirtschaft unmöglich sei. Ganz im Gegenteil, sie ist fest davon überzeugt, dass diese die einzige Form der Rettung unseres Planeten ist. Sie will nur vor der Illusion warnen, dies gehe ohne fundamentale Umkrempelung unseres gesamten Wirtschaftens – quasi als gemütlicher Spaziergang in die Zukunft.

Schlussfolgerung: Der Umstieg in eine grüne Wirtschaft gelingt nur mit einem nicht-kapitalistischen Wirtschaftssystem

Diese Schlussfolgerung ergibt sich unmittelbar aus den beiden Argumenten. Und sie ist hart. Sie bedeutet, dass der Diskurs vom „grünen Wachstum“ – so wichtig für Politiker wie die EU-Kommission mit ihrem Green Deal oder auch Umweltpolitiker in Deutschland – bewusst oder unbewusst ein Ausweichen vor unangenehmen Wahrheiten ist, der Versuch einer Versöhnung mit den Gewohnheiten der fossil geprägten Industriekultur. Und da diese Versöhnung laut Herrmann misslingen muss, führt sie in der Praxis zum dauernden Hintanschieben einer konsequenten Klimapolitik und zum Weiter-so einer zerstörerischen Wirtschaft.

Was das Buch nicht sagt

Aber wie soll das neue Wirtschaftssystem aussehen? Die Autorin zitiert … jawohl – die britische Kriegswirtschaft zwischen 1939 und 1945. Diese sei dirigistisch gewesen, weil die gesamte Industrieproduktion durch Staat und Verwaltung umgesteuert wurde in Richtung auf Erzeugung von Kriegswaffen statt Konsumgütern. Und ohne eine solche dirigistische Rolle des Staates in der dann „grünen“ Wirtschaft werde das jetzt nötige Umsteuern nicht gelingen.
Andererseits sei die Kriegswirtschaft trotzdem eine Markwirtschaft geblieben. Es gab weiterhin die ganze Bandbreite privater Unternehmen, die die staatlichen Vorgaben „selbstorganisiert“ zu erfüllen trachteten.
Aber es gab einen großen Unterschied zwischen damals und heute: niemand in der britischen Gesellschaft leugnete nach Kriegsbeginn die existentielle Gefahr, die Hitlers Angriffskrieg bedeutete. Und: alle trugen ihren Anteil an den Mühen und Entbehrungen, die die Kriegsmaschinerie ihnen abverlangte. Auch die Vermögenden entzogen sich in ihrer Mehrheit nicht der nationalen Aufgabe. Ulrike Herrmann zitiert George Orwell, der 1940 schrieb: „Die Dame im Rolls-Royce lädiert den Kampfgeist weit mehr als eine ganze Flotte von Görings Flugzeugbombern.“ Ohne das Gefühl der gerechten Lastenverteilung wäre der Krieg nicht zu gewinnen gewesen.
Und heute? Heute gibt es eine nicht unbedeutende Minderheit von Klimaleugnern, und ich meine nicht in erster Linie die Wutbürger auf den Straßen. Die dürften in ihrer Mehrheit den schlechter bezahlten Schichten angehören. Die erzeugen durch ihren Konsum weit unterdurchschnittlich CO2. Ich spreche von den oberen 10 Prozent der Einkommenspyramide, die für 50% der Emissionen verantwortlich sind und fest damit rechnen, sich die höheren Energie- und Konsumgüterpreise leisten zu können. Sie wollen keineswegs auf ihre Sylthochzeiten und Privatflüge verzichten und werden unterstützt z.B. von der Automobilindustrie, die ihre Marktpolitik weiter auf die Hochpreissegmente ausrichtet.
Wo sollte also eine gemeinsame Vision von Gemeinsamkeit herkommen, die laut Herrmann so nötig wäre? Wer in den politischen Kreisen propagiert denn offensiv ein Konzept gerecht verteilter gemeinsamer Anstrengung, ohne die die Klimapolitik zum Scheitern verurteilt ist?
Ulrike Herrmanns Buch ist dafür ein Weckruf. Aber wie die Tiefe des politischen Umbruchs, die dafür nötig wäre, zu organisieren wäre; wie die Hartnäckigkeit der deutschen Eliten bei Verteidigung ihrer althergebrachten Positionen überwunden werden könnte – darauf hat auch sie keine Antwort.

Bibliografische Angaben und weitere Informationen

Ulrike Herrmann: Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln, September 2022, ISBN 978-3-462-00255-3

Rezension von Olivia Mitscherlich-Schönherr: Wachstum und Klimakatastrophe: Das Ende des Kapitalismus ist leichter gesagt als getan. In: Frankfurter Rundschau, 21.10.2022, https://www.fr.de/kultur/gesellschaft/wachstum-und-klimakatastrophe-das-ende-des-kapitalismus-ist-leichter-gesagt-als-getan-91866051.html

Interview mit Dierck Wittenberg: Ulrike Herrmann über grünes Schrumpfen und das Ende des Kapitalismus. In: Kreiszeitung Diepholz, 28.10.2022, https://www.kreiszeitung.de/lokales/diepholz/weyhe-ort54198/das-ende-des-kapitalismus-ulrike-herrmann-im-interview-weyhe-lesung-kgs-leeste-91881934.html

Weitere Rezensionen auf Perlentaucher: https://www.perlentaucher.de/buch/ulrike-herrmann/das-ende-des-kapitalismus.html

Im Deutschlandfunk fand am 28.10.2022 im Rahmen der Sendung „Streitkultur“ eine Diskussion zwischen Ulf Poschardt, Chefredakteur der Welt am Sonntag, und Aimée van Baalen, Klimaaktivistin von der Last Generation, statt. Das Thema lautete „Gehen die Klimaaktivisten zu weit?“. Das Buch von Ulrike Herrmann kam nur in einem Satz vor. Aber die Sendung insgesamt bot in 30 Minuten einen guten Eindruck, mit welcher Vehemenz rechtskonservative Vertreter der Eliten wie Poschardt Forderungen nach schnellerem Handeln bekämpfen und in die undemokratische, schon fast terroristische Ecke stellen:

https://share.deutschlandradio.de/dlf-audiothek-audio-teilen.html?audio_id=dira_DLF_178b7206

Autor: Wolf Steinbrecher

Volkswirt und Informatiker. Zuerst als Anwendungsentwickler in Krankenhäusern und Systemhäusern tätig. Dann von 1995 bis 2008 Sachgebietsleiter für Organisation und Controlling in einem baden-württembergischen Landkreis (1.050 MA). Seitdem Berater für Teamarbeit und Dokumentenmanagement. Teilhaber der Common Sense Team GmbH Karlsruhe, www.commonsenseteam.de. Blogger bei www.teamworkblog.de.

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